Missing Link: Kollaps der Newton-Einstein-Gravitation oder hat Einstein fertig?
Seite 3: Astronomisches Roulette
Chae geht jedenfalls davon aus, dass sich die Sterne auf Ellipsenbahnen umkreisen, denn der externe Feldeffekt durch die Sterne der Milchstraße lässt nur eine minimale Abweichung der AQUAL-Gravitation vom Newtonschen Regime erwarten. Wie die Ellipsen bestimmter Doppelsternpaare konkret aussehen, kann Chae den Messdaten nicht entlocken. Der Bahnbogen, den die Sterne im Laufe der auf wenige Jahre beschränkten Gaia-Messungen zurückgelegt haben, ist viel zu kurz, um daraus eine Bahnellipse zu konstruieren, und wie bereits erwähnt fehlt die Dimension der räumlichen Tiefe.
Chae bezieht sich stattdessen auf eine Arbeit von Hwang et al., die aus dem Winkel zwischen der Richtung der Eigenbewegung des kleineren Sterns relativ zum größeren und der direkten Verbindungslinie zwischen den beiden Sternen auf die nach Newton wahrscheinlichste dazu passende "Exzentrizität" (Abplattung der Ellipse zwischen den Extremwerten 0=Kreis und 1=Parabel) der Bahnellipse schließt, sowie auf die Standardabweichung σ, innerhalb welcher sich die tatsächliche Exzentrizität mit 68 Prozent Wahrscheinlichkeit befinden sollte. Hwang hat diese Werte für alle Sterne des El-Badry-Katalogs bestimmt, so dass Chae für alle seine Sterne auf eine mittlere Ellipsenform mit Standardabweichung zurückgreifen kann. Im Einzelfall wird diese nur selten der Realität entsprechen, aber bei einer großen Zahl von Doppelsternsystemen wirkt sich die Streuung wie ein zufälliger Messfehler aus, der sich herausmittelt (mit Fehlerbalken).
Um die Umlaufbahn der Doppelsternkomponenten zu bestimmen, müssten die Raumgeschwindigkeiten der Sterne bekannt sein. Diese setzen sich zusammen aus der Geschwindigkeit in der Himmelsebene (der vorgenannten "Eigenbewegung", die Gaia direkt misst) und einer Komponente in Richtung der Sichtlinie zur Erde. Diese sogenannte "Radialgeschwindigkeit" lässt sich anhand der durch den Dopplereffekt verursachten Verschiebung der Spektrallinien eines Sterns messen. Gaia brilliert hier allerdings leider nicht: während die besten irdischen Spektrographen Geschwindigkeiten mit bis zu 30 cm/s Genauigkeit messen können, um damit das "Wackeln" von Sternen zu erfassen, die von Planeten umkreist werden, hat Gaias Spektrograph nur eine bescheidene Auflösung von ungefähr 1 km/s – das ist in der Größenordnung der zu ermittelnden Bahngeschwindigkeit. Daher taugen die Gaia-Messungen nur zur Auswahl der Doppelsternkandidaten, indem sie die Wahrscheinlichkeit abschätzen helfen, ob sich die zwei mutmaßlichen Partner wirklich gemeinsam am Himmel bewegen und damit physisch zusammengehörig sind.
Die von Gaia gemessenen Eigenbewegungen sind hingegen auf 46 m/s bis hinunter zu 7 m/s genau, aber sie "sehen" nur die Projektion des Geschwindigkeitsvektors auf die Himmelsebene. So als ob man die Bewegung eines Pendels messen möchte, aber nur dessen Schatten sieht.
Um die wahre räumliche Bewegung der Sterne umeinander zu ermitteln, müsste man ihre Eigenbewegungen in den dreidimensionalen Raum "deprojizieren". Dazu müsste man die räumliche Ausrichtung der Bahnellipse kennen, insbesondere die Verkippung der Bahnebene gegen die Sichtlinie, die sogenannte "Inklination", die den wahren Raumabstand zwischen den beiden Sternen gemeinhin perspektivisch verkürzt, die Lage des Periastrons, desjenigen Orts auf der Umlaufbahn, an dem sich die Sterne am engsten annähern (also mithin die Ausrichtung der Ellipse) sowie den Winkelabstand des Sterns vom Periastron aus auf der Bahn gezählt (d.h. den Ort des Sterns auf seiner Umlaufbahn). Diese Daten sind für die einzelnen Systeme leider vollkommen unbekannt.
Chaes Ansatz: was ich nicht weiß, rate ich halt. In kaum einem einzelnen Fall wird er damit richtig liegen, aber da die Bahnen der Sterne insgesamt ebenfalls zufällige Verkippungen, Ausrichtungen und Orte des umlaufenden Sterns haben, wird die Statistik über viele Doppelsterne stimmen. Als praktisches Beispiel stelle man sich vor, gegeben eine Gruppe von Leuten in einem Raum, von der man wissen möchte, wie viel Kleingeld sich zusammengezählt in ihren Portemonnaies befindet. Dazu lasse man sich von einem Computer die einzelnen Beträge gemäß einer plausiblen Verteilung (Mittelwert ± Streuung) generieren und zusammenrechnen, dann wird man am Ende ungefähr auf den richtigen Betrag kommen, falls die Verteilung nicht auf falschen Annahmen beruht. Mathematiker bezeichnen diesen Ansatz als "Monte-Carlo-Simulation".
Chae erwürfelt also die unbekannten Werte einfach mit passenden Verteilungsfunktionen zufällig: den sogenannten Phasenwinkel des Periastrons (das ist die Richtung, in welcher das auf die Himmelskugel projizierte Periastron liegt), gleichverteilt zwischen 0° und 360°, die Inklination mit einer Sinusfunktion gewichtet zwischen 0° und 90°, denn Verkippungen nahe 90° verursachen wenig Änderung im beobachteten Winkelabstand und sind daher überproportional wahrscheinlich, und den Ort auf der Bahn. Hierfür berechnet er den Winkel vom Periastron aus entlang der Bahn gezählt für einen zufälligen Zeitpunkt der Umlaufzeit, den er gleichverteilt zwischen 0 und der Umlaufzeit zieht. Dies berücksichtigt das 2. Keplersche Gesetz, demgemäß der Stern im Periastron eine größere Winkelgeschwindigkeit hat als im Apastron, wo er sich dementsprechend längere Zeit aufhält.
Das Würfeln wird pro Sternenpaar bis zu 200-mal wiederholt. Es ergibt sich je Sternenpaar eine Wolke aus Punkten, jeder davon die Realisation einer Kombination aus Inklination, Periastron-Ausrichtung und Ort auf der Bahn. Für jeden der Punkte lässt sich in Kombination mit der von Gaia gemessenen Eigenbewegung und dem Winkelabstand der Sterne eine räumliche Geschwindigkeit v und ein räumlicher Abstand r berechnen. Interessant wird es nun, wenn man für den Abstand r die Schwerebeschleunigung nach Newton (gN=G×M/r² mit der Summe der Massen M und der Gravitationskonstanten G) und die Zentrifugalbeschleunigung auf einer Kreisbahn mit dem Radius r berechnet (g=v²/r) und diese beiden Größen für jeden der Punkte in einem Diagramm wie dem folgenden gegeneinander aufträgt:
Für die Lage der Punktewolke im Diagramm ist entscheidend, wie hoch die Raumgeschwindigkeit ist (diese bestimmt hauptsächlich den Wert auf der y-Achse – je langsamer, desto tiefer liegt der Punkt) und wie groß die räumliche Distanz zwischen den Sternen (diese bestimmt hauptsächlich die x-Achse: je kleiner der Abstand, desto weiter rechts liegt der Punkt). Beide Größen hängen von der Inklination ab: bei kleiner Inklination (steilerer Blick auf die Bahn) sind für den gleichen gemessenen Winkelabstand und die gleiche gemessene Eigenbewegung die Raumentfernung und die Raumgeschwindigkeit kleiner als bei größerer Inklination mit größerer perspektivischer Stauchung. Kleine Inklination heißt also, dass die Punkte im Diagramm weiter rechts unten landen. Da die Punkte bei der Ellipsenbahn häufiger in Apastron-Nähe liegen, bedeutet die im obigen rechten Diagramm sichtbare Häufung der Punkte rechts unten, dass dort das Apastron bei fast direkter Draufsicht zu sehen ist. Gegenüber der Kreisbahn im linken Diagramm sind die Punkte nach unten verschoben, das heißt die Inklination ist bei einer elliptischen Bahn für die gleichen Messwerte im Mittel kleiner.
Die Streuung der Punkte einzelner Doppelsterne ist nicht aussagekräftig, man weiß ja nicht, welcher der Punkte die wahre Bahngeometrie wiedergibt. Nimmt man hingegen die Menge aller Sterne zusammen und würfelt jeweils einmal, so kann man einen "Schwerpunkt" ermitteln, der in Bezug auf zwei Achsen "mittig" in den Datenpunkten liegt, einen sogenannten "Median" (auf jeder der Achsen liegen je 50 Prozent der Punkte rechts und links des Medians). Für jeden Monte-Carlo-Durchlauf lässt sich ein neuer Median bestimmen und obwohl jeder der Streupunkte jedes Sterns an anderer Stelle im Diagramm auftauchen wird, wird der Median wieder ungefähr an derselben Stelle landen.
Chae unterteilt seine Streuwolke, wie im obigen Bild zu sehen, für jede Simulation in drei Abschnitte ("orthogonal bins") mit niedriger, mittlerer und hoher Schwerebeschleunigung und bestimmt für jede ihren Median. Die Mediane zieht er dann zum Vergleich der Messdaten mit simulierten Daten für die beiden Gravitationstheorien heran.
Lackmustest für AQUAL
Die Idee ist, dass sich systematische Abweichungen in einer Veränderung der Mediane widerspiegeln.
Chae geht wie folgt vor:
- Im ersten Schritt nimmt er die Gaia-Messdaten her (Eigenbewegungen und Winkelabstände der Doppelsterne) und würfelt die Ellipsengeometrien der ausgewählten Doppelsterne zufällig (Phasenwinkel des Periastrons, Inklination, Ort des Sterns auf der Bahn). Für jeden Monte-Carlo-Durchlauf ergibt sich, wie oben gesehen, für jedes Doppelsternpaar eine räumliche Entfernung der Doppelsternpartner und eine Raumgeschwindigkeit, und daraus eine Gravitations- und Kreisbahnbeschleunigung im Diagramm. Für alle Sterne zusammen wird je ein repräsentativer Median für kleine, mittlere und hohe Schwerebeschleunigung gebildet. Für 50 bis 200 Monte-Carlo-Durchläufe ergeben sich entsprechend viele Mediane, die um die Mittelwerte für kleine, mittlere und große Schwerebeschleunigungen streuen. Das sind sozusagen die "Ist-Daten".
- Im zweiten Schritt werden alle Doppelsterne erneut betrachtet, aber nur die Winkelabstände der Gaia-Messung berücksichtigt, während die Eigenbewegungen ignoriert werden. Die Ellipsengeometrien werden in identischer Weise wie zuvor zufällig erwürfelt, die räumliche Entfernung wird wieder aus der sich so ergebenden zufälligen Geometrie und dem gemessenen Winkelabstand gefolgert, aber nun wird die Raumbewegung der Sterne aus der räumlichen Distanz der Doppelsternpartner und ihrer Massen für die jeweilige Bahngeometrie errechnet (simuliert), anstatt sie aus der gemessenen Eigenbewegung abzuleiten: einmal mit dem Newtonschen Gravitationsgesetz und einmal mit dem AQUAL-Gesetz. Es ergibt sich dann jeweils wieder eine Kreisbahn- und Gravitationsbeschleunigung pro Stern für jeden Monte-Carlo-Durchlauf, sowie ein Median pro "orthogonal bin". Über 50-200 Durchläufe entsprechend mittlere Mediane mit Streubereich. Das wären dann die "Soll-Daten".
- Nun kann man die Mittelwerte der Mediane für die "Ist-" und "Soll-Daten" miteinander vergleichen. Wenn das Newtonsche Gravitationsgesetz gilt, sollte die Ist-Mediane mit den Soll-Medianen der Newton-Berechnung zusammenfallen. Gibt es eine Abweichung von Newton und eine bessere Annäherung insbesondere für die größeren Entfernungen durch AQUAL, so wäre die AQUAL-Gravitation das bessere Modell.
Als freien Parameter variiert Chae den Anteil der Mehrfachsysteme mit versteckten engen Partnern, den er sowohl auf die gemessenen als auch auf die berechneten Fälle anwendet. Für die Doppelsterne mit hohen Gravitationsbeschleunigungen sollte das AQUAL-Gravitationsgesetz gegen dasjenige von Newton konvergieren; falls die Streuung für solche Sterne zwischen gemessenen und simulierten Eigenbewegungen abweicht, ändert Chae den Anteil der Mehrfachsysteme, bis die Streuungen statistisch übereinstimmen ("Selbstkalibrierung" der Daten). Wenn eine Abweichung der Mediane für Sterne mit geringer Schwerkraftbindung verbleibt, dann gilt Newton hier nicht mehr.
Und was ist dabei herausgekommen?
Im Bild oben sieht man für 26615 Sterne bis 200 pc je eine Monte-Carlo-Realisation ihrer Bahnen, einmal in Blau mit virtuellen, aus der gewürfelten Bahn nach Newtonscher Schwerkraft ermittelter Raumbewegung ("Soll-Wert") und einmal in Rot aus den gemessenen Eigenbewegungen gefolgert ("Ist-Wert"). Jeweils drei fette Punkte in der jeweiligen Farbe markieren die Mediane für kleine, mittlere und große Schwerebeschleunigungen (große/mittlere/kleine Distanz). Erwartungsgemäß fallen der rote und blaue Median für große Beschleunigungen zusammen, weil dort das Newtonschen Regime vorliegt, aber in größerer Entfernung bei mittleren geringeren Schwerebeschleunigungen weichen die roten Mediane mehr und mehr von den erwarteten Newtonschen Medianen ab. Sie liegen näher an der gestrichelten Linie der Kreisbahngeschwindigkeit. Dies könnte man so interpretieren, dass die Schwerkraft höher als bei Newton ist.
Da nur je ein Median für einen Satz Bahnparameter pro Sternenpaar wenig statistische Aussagekraft hat, werden im Bild oben die Mediane von 200 Monte-Carlo-Simulationen für Sterne bis 80 pc Entfernung (links) und bis 200 pc Entfernung (rechts) aufgetragen. Die unteren Grafiken stellen die Abstände der roten Mediane vom Mittelwert der blauen Mediane dar, also die Abweichung zwischen erwarteter Newtonscher Gravitationsbeschleunigung (gestrichelte waagerechte Linie) und aus Messung erschlossener, versehen mit ihrem Mittelwert und dem Balken von ± einer Standardabweichung. Der Abstand des Mittelwerts für die kleinste Beschleunigung liegt für die kleinere 80-pc-Stichprobe bei 2,9σ (hier erhältlich als Mittelwert dividiert durch die Standardabweichung), für die größere 200-pc-Stichprobe sogar bei 5,3σ. In der Teilchenphysik gelten 5σ Signifikanz als Beweis dafür, dass ein Ergebnis nicht mehr auf zufällige Messfehler zurückzuführen sein kann, denn die Wahrscheinlichkeit einer solch großen Abweichung wäre nur 1:29 Millionen. In einem anderen, hier nicht dargestellten Diagramm kommt er durch Kombination der Signifikanzen zweier Punkte sogar auf 9,7σ und schreibt dies als ≈10σ, womit er in der Zusammenfassung zu Beginn des Artikels prahlt. Zehn Sigma!
In Pink ist die für die jeweilige Beschleunigung erwartete AQUAL-Abweichung dargestellt, welche die aus den Messungen geschlossenen Mediane fast perfekt zu modellieren scheint.
Chae stellt in der Originalarbeit zahlreiche ähnliche Diagramme zur Absicherung der Ergebnisse vor, zum Beispiel für die Sternenmasse ermittelt aus der Helligkeit durch einen anderen Farbfilter, für (nur partiell verfügbare) genauere Sternmassen unter Berücksichtigung der Sternentwicklung aus dem Gaia Datenrelease 3 FLAME-Katalog ("Final Luminosity Age Mass Estimator"), für verschiedene Parameter der Umlaufbahnen der unsichtbaren Komponenten usw. und stets ergibt sich ein ähnliches Bild.
Damit sind Einstein und Newton offenbar mausetot und AQUAL ist der haushohe Sieger. Oder?