Missing Link: Kollaps der Newton-Einstein-Gravitation oder hat Einstein fertig?
Angeblich konnte im Sommer eine Alternative zur Relativitätstheorie bewiesen werden, das wäre eine Sensation. Eine ausführliche Prüfung weckt aber Zweifel.
Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie, welche sowohl die Schwerkraftwirkung von Massen bis hin zu Schwarzen Löchern als auch die Entwicklung des Universums insgesamt beschreibt, hat sich über 100 Jahre lang bewährt und bisher alle Tests mit fliegenden Fahnen gemeistert. Sie umfasst die ungleich ältere Newtonsche Gravitationstheorie als Spezialfall für kleine Massen in großen Entfernungen. Bei der Beschreibung der Rotation von Galaxien und der Expansion des Weltalls kommt sie jedoch nicht ohne Zusatzannahmen wie dem Vorhandensein riesiger Mengen unsichtbarer Dunkler Materie und einer physikalisch bisher nicht begründeten kosmologischen Konstante aus, so dass die Rufe nach einer Modifikation nicht verstummen.
Ein überzeugender Nachweis für die Gültigkeit alternativer Theorien konnte bisher jedoch nicht geliefert werden, und keine Alternative ist annähernd so erklärungsmächtig wie die Relativitätstheorie. In den vergangenen Monaten wurden nun zwei Arbeiten vorgestellt, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, dass die Allgemeine Relativitätstheorie und damit auch der gute alte Newton ins Wanken gebracht worden seien. Aber wie sieht es auf den zweiten Blick aus? In einer kleinen Reihe möchte ich die Arbeiten näher beleuchten, um die Frage zu klären, wie diese Aussagen zu bewerten sind. Oder um es mit Giovanni Trapattoni zu sagen: Haben Newton und Einstein fertig?
Galaxien mit Schleudertrauma
Am 24. Juli 2023 veröffentlichte das Astrophysical Journal eine Arbeit des koreanischen Astronomen Chae Kyu-Hyun von der Sejong-Universität in Seoul. Chae berichtet darin über seine Untersuchung der Umlaufbahnen von 26.500 weiten Doppelsternen, die Newtons und Einsteins Gravitationsgesetz zu trotzen scheinen.
Chae ist ein Verfechter der Modifizierten Newtonschen Dynamik (MOND, die Abkürzung hat nichts mit dem Erdtrabanten zu tun und spricht sich wie die Silbe "mond" in "mondän"). MOND ist eine Alternativtheorie zu Newtons und Einsteins Gravitationstheorien, die vor 40 Jahren von Mordehai Milgrom erdacht worden war, um die Rotationskurven von Galaxien zu erklären. Die Rotationskurven geben an, wie schnell sich die Sterne in einem gewissen Abstand vom Zentrum der Galaxie um dieses herum bewegen, und diese Geschwindigkeit hängt davon ab, wie viel Masse die Galaxie enthält. Die Masse der Sterne kann man anhand ihres Lichts abschätzen, und stellt fest, dass diese sichtbare Materie nicht ausreicht, um die Galaxie zusammenzuhalten, wenn die Sterne so schnell unterwegs sind, wie es die gemessene Rotationskurve besagt.
Die Erklärung im Rahmen der von der überwiegenden Zahl der Astronomen akzeptierten Theorien von Newton und Einstein ist, dass sich neben den Sternen eine große Menge von nicht beobachtbarer Dunkler Materie in den Galaxien befinden soll, deren Masse die der Sterne um das Vierfache und mehr übersteigt. Nach Milgroms Theorie sollen die Newtonschen und Einsteinschen Theorien hingegen nur Näherungen im Nahfeld von Massen sein, während das Gravitationsgesetz in größerer Entfernung eine andere Form annehmen und die Gravitation mit der Entfernung langsamer abnehmen soll.
Vereinfacht gesagt nimmt die Schwerebeschleunigung, mit der ein aus dem Ruhezustand losgelassener Probekörper auf eine Masse zufällt, bei Newton quadratisch mit der Entfernung von der Masse ab. Bei MOND soll das jedoch nur im sogenannten "Newtonschen Regime" oberhalb einer gewissen Beschleunigung a0 der Fall sein, die in der Größenordnung von 1,2 × 10-10 m/s² liegen soll. Außerhalb des Newtonschen Regimes nehme die Beschleunigung nur noch linear mit der Entfernung ab, deutlich langsamer. Dies bedeutet, dass weit entfernte Objekte bei MOND gravitativ stärker gebunden wären als bei Newton, was Galaxien zu einem höheren Zusammenhalt verhelfen würde und mithin höhere Bahngeschwindigkeiten der Sterne bei ihrem Umlauf erforderlich machte, gerade so wie es beobachtet wird – ganz ohne Dunkle Materie. Das klingt zunächst einmal sehr verlockend.
Ein Schönheitsfehler der Theorie in dieser Form ist allerdings, dass sie Impuls und Energie auf einer Umlaufbahn nicht erhält, das heißt die Orbits von Sternen würden langfristig verfallen und die Sterne in der Galaxie nach innen driften, mindestens bis zum Newtonschen Regime. Daher erdachte Milgrom zusammen mit Jacob Bekenstein eine Variante der Theorie, die sie AQUAL tauften ("A-QUAdratic Lagrangian", abgeleitet vom Lagrange-Formalismus, bei dem die Bewegung von Objekten unter dem Einfluss von Kräften anhand von einschränkenden Bedingungen, wie etwa dem Erhalt der Summe aus Bewegungsenergie und Lageenergie, beschrieben wird; AQUAL ist ein nicht-relativistischer Vorläufer der späteren TeVeS-Theorie von Milgrom & Bekenstein). In AQUAL bleiben Energie und Impuls erhalten und die Gravitationsbeschleunigung ist bei scheibenförmiger Verteilung der Materie wie in Spiralgalaxien lediglich um 10 Prozent bis 15 Prozent gegenüber MOND verringert.
Nun haben wir also zwei konkurrierende Erklärungen für die Rotationskurven von Galaxien: Newtons Gravitationsgesetz mit zusätzlicher Dunkler Materie, und AQUAL ohne solche Materie. Wie kann man entscheiden, welche Theorie die bessere ist? In der Physik klärt man dies gemeinhin durch ein Experiment. Man müsste die Beschleunigung eines Probekörpers in einem sehr schwachen Gravitationsfeld unterhalb der Beschleunigung a0 messen. Entspräche diese dem Newtonschen (kleineren) Wert, so würde Newton gelten. Entspräche sie dem AQUAL-Wert, so gewänne Milgrom.
Es gibt allerdings zwei Probleme: erstens ist a0 irrsinnig klein – unsere Sonne verursacht eine solch kleine Schwerebeschleunigung in einer Entfernung von 7.000 AE (1AE = astronomische Einheit = 149,5 Millionen km, mittlerer Abstand der Erde zur Sonne), die der 233-fachen Entfernung des äußersten Planeten Neptun von der Sonne entspricht. Die Messung einer solch geringen Beschleunigung wäre ausgesprochen schwierig. Wir scheitern bereits daran, die Gravitationskonstante mit mehr als drei Nachkommastellen Genauigkeit zu bestimmen.
Zweitens würde eine solche Messung in einem irdischen Labor grundsätzlich daran scheitern, dass in den MOND-Theorien das Superpositionsprinzip der Kräfte nicht gilt: Cavendishs Gravitationswaage funktionierte wunderbar im Schwerefeld der Erde, weil die Auslenkung der Probemassen in einer Ebene senkrecht zum Schwerefeld der Erde erfolgte – das Schwerefeld war folglich de facto ausgeschaltet. Bei MOND und AQUAL gilt hingegen der "externe Feldeffekt", der besagt, dass sich innerhalb eines starken Gravitationsfelds die Schwerebeschleunigung stets im Newtonschen Regime befindet, das heißt im Schwerefeld der Erde würden MOND und AQUAL dieselben Messergebnisse wie Newton liefern, auch wenn die Messung orthogonal zur Richtung des irdischen Schwerefelds erfolgte. Benötigt wird mithin eine Messung in situ im Regime unterhalb von a0, das heißt im tiefen Weltraum. Das Newtonsche Regime der Sonne endet leider erst 44-mal weiter draußen, als es das erdfernste Objekt aus Menschenhand, die Voyager-1-Sonde, in den vergangenen 46 Jahren geschafft hat. Doch es gibt natürliche Labore im Weltraum!