Missing Link: Nach dem Crackdown – Die neue Rolle der Digitalwirtschaft in China

In den vergangenen Jahren gerieten Chinas Digitalkonzerne ins Visier der Politik. Heute stehen ihnen schlagkräftige Regulierungsinstitutionen gegenüber.

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(Bild: Tatohra/Shutterstock.com)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Timo Daum
Inhaltsverzeichnis

In den vergangenen Jahren lässt sich eine Korrektur des Gesellschaftsvertrags in China erkennen, in dessen Folge auch die Rolle der Digitalkonzerne und der digitalen Sphäre neu bestimmt wird. Ihnen stehen mittlerweile mächtige Regulierungsinstitutionen gegenüber – die Zeit des rechtsfreien Operierens ist vorbei.

Der Lebensstandard der chinesischen Bevölkerung hat sich, gemessen am Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, in den vergangenen 30 Jahren verdreißigfacht, in Deutschland hat er sich im selben Zeitraum lediglich verdoppelt. Insbesondere im Digitalen haben Chinesinnen und Chinesen heute Weltklasse-Infrastrukturen zur Verfügung. Die Anfang des Jahrtausends auf die Bühne getretenen heimischen Digitalkonzerne schulterten diese digitale Wohlstandsentwicklung. Dabei wurden sie zu eigenständigen Machtfaktoren in der chinesischen Gesellschaft und ihre Chefs unermesslich reich.

Im Zuge dieser Entwicklung ist jedoch die Schere zwischen Arm und Reich in der Volksrepublik immer weiter aufgegangen, direkte Folge der weitgehend unkontrolliert abgelaufenen kapitalistischen Dynamik der letzten Jahrzehnte. Die Einkommensungleichheit gehört heute zu den größten der Welt, auch bei der Geschlechterparität sieht es ähnlich aus.

In der Volksrepublik wird dies zunehmend als Problem angesehen, denn die ungebremste Bereicherung von Teilen der Gesellschaft, insbesondere im Digitalsektor, hat enorme gesellschaftliche Sprengkraft. Die kommunistische Führung versucht gegenzusteuern, und die Partei hat den Konflikt zwischen "unausgewogener und mangelhafter Entwicklung und den ständig wachsenden Bedürfnissen der Menschen nach einem besseren Leben“ zum Hauptwiderspruch der gegenwärtigen chinesischen Gesellschaft erklärt.

Ein weiteres Problem aus Sicht der Führung: Die chinesischen Tech-Konzerne sind dank ihrer Größe und zentralen Bedeutung für das Alltagsleben in China zu einem eigenständigen Machtfaktor geworden. Anders als US-amerikanische Tech-Konzerne sind ihre Pendants in China allesamt im Finanzsektor engagiert. In den USA und in Europa wäre es schwer vorstellbar und vermutlich nicht legal, wenn etwa Amazon oder Google im Bankensektor aktiv wären. Da es in China nur einen schwach ausgebildeten Bankensektor gab, wurden sie für viele Menschen zu De-facto-Banken, deren Dienste von Kontoservices über Zahlungsabwicklung bis zur Vergabe von Krediten reichen.

Obendrein drängten die Digitalkonzerne auf internationale Finanzplätze, werden an ausländischen Börsen notiert und gehören zu einem Gutteil ausländischen Investoren. So ist Alibabas größter Anteilseigner mit 24 Prozent die japanische Investment-Holding Softbank.

Ab etwa 2020 ging die chinesische Regierung daher mit Bußgeldern, Vorschriften und neu gegründeten Regulierungsinstitutionen gegen monopolistische Praktiken von Chinas Internet-Technologiegiganten vor. Die Staatsführung bekräftigte ihren Willen, die Praxis des "Reichwerdens durch illegale Mittel auf den Kapitalmärkten" zu verhindern und gegen "wildes Wachstum" und die "ungeordnete Expansion des Kapitals" bei Chinas Technologiekonzernen vorzugehen.

Im Oktober 2020 brach ein regelrechter Regulierungssturm auf die chinesische Technologiebranche herein, als der Börsengang der ANT Group, die zum Alibaba-Konzern gehört, kurz vor dem vorgesehenen Termin von den Aufsichtsbehörden auf Eis gelegt wurde. Auslöser war eine Rede Jack Mas einige Wochen zuvor, in der er die Regulierungsbehörden für ihre "alte Denkweise" kritisiert hatte. Angela H. Zhang, Professorin an juristischen Fakultät der Universität Hong Kong, erläutert, mit seiner Rede habe Ma ein Tabu verletzt, indem er Autorität und Legitimität von staatlichen Institutionen öffentlich in Frage gestellt habe. Die Politik habe diesen Tabubruch als willkommenen Anlass für eine länger vorbereitete Regulierungs-Offensive nutzen können.1

Binnen kürzester Zeit wechselte Peking von einem sehr laxen Kurs zu der gegenüber den Digitalkonzernen vielleicht weltweit striktesten Politik. Im Verlauf dieser seitdem als "Crackdown“ bezeichneten Regulierungsoffensive brachen auch die Börsenkurse der Technologieunternehmen ein: Laut Goldman Sachs verloren sie 3,1 Billionen US-Dollar an Marktkapitalisierung beziehungsweise Unternehmenswert, mehr als der Gesamtwert von Apple. Im Westen wurde der Crackdown gegen die Digitalkonzerne oft als Kurswechsel und Kampfansage an den privaten Sektor, als autoritäre Wende nach einer Phase des hoffnungsvollen Laissez-faire interpretiert.

"Missing Link"

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Mit Beginn des Jahres 2023 verzog sich der Sturm ähnlich schnell, wie er vor zweieinhalb Jahren aufgezogen war. Die CAC verkündete, die großangelegte Überprüfung von 14 Finanzplattformen der Internetgiganten sei abgeschlossen. Eine zwei Jahre dauernde Kampagne endete damit fast so abrupt, wie sie begonnen hatte. Die China-Expertin Antonia Hmaidi vom Merics-Institut stellt fest: "Es scheint, dass Chinas Internetunternehmen wieder gedeihen dürfen – wenn auch unter strengerer staatlicher Aufsicht".

Der Crackdown verfolgte also offenbar nicht das Ziel, dem Digitalsektor dauerhaft zu schaden. Im Gegenteil, ihm kommt auch in Zukunft immense Bedeutung zu. Die Tech-Konzerne waren immer schon den Partei- und Staatszielen verpflichtet, wenn auch nicht in dem Maße wie Staatsbetriebe. Die Tech-Konzerne weisen übrigens von allen Privatunternehmen den höchsten Prozentsatz an Parteimitgliedern auf.

Der Crackdown hat auch innenpolitische beziehungsweise propagandistische Effekte: Die Partei greift gegen illegale Praktiken durch und weitet die für die ersten Jahre der Ära Xi charakteristische Korruptionsbekämpfung auf den Digitalsektor aus. Dies umfasst auch eine Stärkung der individuellen Nutzerrechte mit Hilfe von Regulierungsbehörden sowie neuen gesetzlichen Regelungen, wie das chinesische 2021 in Kraft getretene Pendant zur Europäischen Datenschutzgrundverordnung belegt.

Als Folge des Crackdowns spielten Regulierungsbehörden in China eine zunehmend gewichtige Rolle, etwa die Cyberspace Administration of China (CAC), die State Administration for Market Regulation (SAMR) und das Ministerium für Information und Informationstechnologie (MIIT). Insbesondere die erst 2013 gegründete Internet-Aufsichtsbehörde CAC (Cyberspace Administration of China) wuchs zu einem mächtigen Gegenspieler der Digitalkonzerne heran. Sie ging aus dem staatlichen Büro für Internetinformationen hervor, das wiederum dem Informationsbüro des Staatsrats unterstand und auch mit der Ausarbeitung und Umsetzung des Cybersicherheitsgesetzes des Landes aus dem Jahr 2017 betraut war. Ursprünglich hatte sie die Aufgabe, Online-Inhalte zu regulieren, ihre Kompetenzen wurden aber erheblich erweitert.

Die Expertin für die chinesische Regulierungslandschaft Lei Ya-Wen betont die Rolle der Behörden als dritte Säule neben der politischen Exekutive und der Justiz: Während die Exekutive die "Kampagne zur Disziplinierung des Kapitals anführt", komme – angesichts der relativen Schwäche der Judikative – den Regulierungsinstitutionen die Rolle zu, "zahlreiche sektorale Regulierungsbestimmungen und Verwaltungsrichtlinien zu erlassen" und auch durchzusetzen.2 Gleichzeitig ist es mit der Unabhängigkeit der Institutionen im Sinne einer Gewaltenteilung nicht weit her: Die Regulierungsbehörden agieren eher als verlängerten Arm der Partei- und Staatsführung.

Der Auf- und Umbau mächtiger Regulierungsinstitutionen setzt sich ungebrochen fort: Mitte März 2023 erfolgte die Neugründung einer Behörde zur landesweiten Datenadministration (National Data Administration). Dies unterstreicht die strategische Bedeutung, die Daten beim Aufbau eines digitalen Chinas, der digitalen Wirtschaft und einer digitalen Gesellschaft beigemessen wird.

Aus schwachen, zerstreuten und unerfahrenen Regulierungsbehörden wurden schlagkräftige Institutionen, die zu eigenständige Machtfaktoren in Chinas Digitalsektor herangereift sind.

Was aber bedeutet der Crackdown für Chinas Entwicklung insgesamt? Handelt es sich um eine Korrektur von Auswüchsen und einer zügellosen Bereicherungsdynamik oder um eine politische Zäsur, die eine Rückkehr zu mehr Parteiherrschaft und weniger Unternehmertum, mehr Unterdrückung und weniger Freiheit bedeutet? So argumentiert etwa der Juraprofessor und Berater des US-Kongresses, Carl Minzer, wenn er eine "Ära der Gegenreformation" heraufziehen sieht, die an die "schlechte alte Mao-Zeit" erinnere. Diese Sichtweise verkennt jedoch, dass zum einen die Digitalwirtschaft in der Partei ihre vorrangigste Förderin findet und andererseits ihr Aufstieg schon immer den langfristigen Zielen untergeordnet war und ist.

Auch wenn Vergleiche mit der Kulturrevolution wohl übertrieben sind: Die Geschwindigkeit sowie die Art und Weise, wie sich das Primat der Politik über Regeln und Gesetze erhebt, erinnert an das Instrument der Kampagnen aus der revolutionären Vergangenheit der KPCh mit ihrem Guerilla-Politikstil.

Das stellt allerdings auch ein Problem dar: Bemühungen um mehr Rechtsstaatlichkeit werden durch solche an Maos "Kampagnen“ erinnernden paralegalen Aktionen konterkariert. Es besteht das Risiko von Überreaktion und unerwünschten Nebeneffekten aufgrund wahrgenommener oder tatsächlicher Unberechenbarkeit der Maßnahmen. Probleme treten allerdings auch auf, weil es kaum ausgleichende Gegengewichte zur staatlichen Politik gibt, keine breite gesellschaftliche Debatte, keine kritischen Institutionen und keine kritische Öffentlichkeit, die den politischen Kampagnen Paroli bieten könnten.

In der Rückschau erscheint der Crackdown als eine heftige, im Kampagnen-Stil durchgeführte Regulierungsoffensive. Aus heutiger Sicht stellt sich der "Crackdown“ eher als temporäre Kampagne für Verrechtlichung und Korrektur heraus und weniger als genereller Kurswechsel gegenüber der digitalen Sphäre. Denn die Rolle der Digitalkonzerne ist nach wie vor zentral für die "nachhaltige und gesunden Entwicklung“ der Plattformwirtschaft, wie es offiziell heißt.

Quellen/Verweise

  1. (Angela Huyue Zhang: "Agility over Stability. China’s Great Reversal in Regulating the Platform Economy". In: Asian eJournal, No. 28, Juli 2021)
  2. (Ya-Wen Lei: "Rewiring the Techno-Nation", Vortrag am Wissenschaftszentrum Berlin, 27.7.2022)

(bme)