Missing Link: Nothing to Hide, oder: Wie mit "Social Scoring" die Privatsphäre abgeschafft wird

Seite 2: Erziehungsdiktatur

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"Noch nie ist ein Land der Vision einer umfassenden Erziehungsdiktatur so nah gekommen wie China", schreibt der Stern. Es sei zu erwarten, dass in die "Schufa für alle Lebenslagen" alle Daten einflößen, die der Staat und ihm nahe Firmen in die Finger bekämen. Für die Zeit und von ihr befragte Bürgerrechtler steht außer Frage, dass die chinesische Führung mit dem Ansatz nicht nur den "kommunistischen Musterbürger" heranziehen, sondern auch die "totale Kontrolle" erreichen will.

Ohlberg schätzt, dass Teile der bisherigen Projekte der Regierung und staatsnaher Unternehmen in dem finalen System zusammenfließen. Dabei dürfte der Aspekt, Personen mit unerwünschtem sozialen Verhalten beim Namen zu nennen und öffentlich vorzuführen, noch verstärkt werden. Verschiedene Gesichtspunkte der laufenden Versuche erinnerten an Big Brother.

Von einer vollständigen "digitalen Dystopie" will die Beobachterin noch nicht reden. Es zeichne sich jedoch ab, dass eine Gruppe Bürger 2. Klasse entstehe, die "weniger Zugang zu Leistungen und mehr Verpflichtungen" haben werde. In einer Kommune sei ein Pilotprojekt so schon nach Protesten aus der Bevölkerung abgebrochen worden. Generell halte sich der Widerstand aber in Grenzen, da kritische Debatten im Internet angesichts der staatlichen Zensur sowie der "Selbstregulierung" der nationalen Online-Plattformen "zurückgedreht" würden.

Bei einer Analyse der Diskussionen über die erweiterte Bonitätsprüfung in offiziellen Medien sowie Blogs und Foren im ersten Halbjahr 2017 kamen Forscher vom MERICS zu dem Ergebnis, dass die Zahl negativer Beiträge zu dem Thema gering war. Eine Ausnahme sei eine Auseinandersetzung darüber gewesen, wie Bewertungen bei Sesame Credit entstehen und mit welchen Tricks Nutzer ihren Score verbessern können. In den chinesischen Medien sei "gesellschaftliche Bonität" zu einem politischen Modewort geworden, das von der Zentralregierung und den Provinzbehörden ebenso häufig verwendet werde wie von Finanzinstitutionen oder Universitäten.

(Bild: Gerd Altmann, gemeinfrei)

Das vom Staatsrat seit 2014 mit Nachdruck vorangetriebene System wird laut den Wissenschaftlern vor Ort hauptsächlich als "Allheilmittel für verschiedene Probleme von Gesellschaft und Regierungsführung gesehen". Es solle helfen, Korruption zu bekämpfen und Sozialrüpel zur Vernunft zu bringen. Eine von "unzuverlässigen Elementen" bedrohte Gesellschaft könne – so der offizielle Tenor – durch den Bürgerscore "zum Besseren verändert werden". Dahinter stehe "ein fester Glaube der chinesischen Regierung an die Technik und die Unfehlbarkeit der Big-Data-getriebenen Technologie". Informationssysteme und digitale Sensoren seien demnach "objektive und unfehlbare Prüfinstanzen".

In Blog- und Social-Media-Berichten werden der Untersuchzug zufolge die "unwägbaren Eigeninteressen kommerzieller Akteure", die nicht immer gewährleistete Qualität der gesammelten Daten sowie fehlende Vorgaben zur Standardisierung erhobener Informationen kritisiert. Auch Probleme und Risiken wie Korruption in lokalen Regierungen, Verletzungen der Privatsphäre und fehlende Vorkehrungen zum Schutz personenbezogener Daten kämen zur Sprache. Nicht hinterfragt werde, dass Algorithmen "moralische Urteile" fällten, die sich "auf das gesellschaftliche Zusammenleben insgesamt auswirken" könnten.

Aufsehen erregt habe ein Beitrag auf dem Portal Sina Weibo über eine ganz neue Form von Schwarzmärkten. Demnach könnten Nutzer der Bezahllösung Alipay Hacker anheuern, um ihren Sesam-Kredit-Score aufzuhübschen. Die User müssten dafür nur ihre Benutzernamen und Passwörter bereitstellen. Die Computertüftler, die sich längst eine goldene Nase verdienten, veränderten dann die Profile, indem sie deren Inhabern "virtuellen" Immobilienbesitz, angesehene Freunde, teure Autos oder den Abschluss einer Elite-Universität zuschrieben. Sollte dies stimmen, drohe dem System mittelfristig ein Vertrauensverlust. Zudem sei dessen Sicherheit angesichts hoher Risiken für Identitätsdiebstahl oder Datenmissbrauch stark gefährdet.