Missing Link: Nothing to Hide, oder: Wie mit "Social Scoring" die Privatsphäre abgeschafft wird

Seite 4: Digitalkonzerne als Regierungsersatz

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Sin Chung-kai, Gründungsmitglied der demokratischen Partei Hongkongs, vergleicht diese Situation mit einem Szenario, in dem Facebook oder Amazon mit der US-Regierung kooperierten, für diese die in den USA als Ausweisersatz herangezogenen "Social Security"-Nummern elektronisch vergäben, mit Gesichtserkennung bündelten sowie alle generierten Informationen jahrelang speicherten. Zu bedenken sei zudem, dass in China alle Transaktionen der Bezahlsysteme über ein "Clearinghouse" laufen müssten und damit komplett zentral ausgewertet werden könnten.

Parallel würden in China alle Mobiltelefone registriert, anonyme SIM-Karten seien nicht erlaubt, unterstreicht Sin. Dazu kämen rund 176 Millionen Überwachungskameras im öffentlichen Raum, die bis 2020 auf 626 Millionen aufgestockt werden sollten. In Peking liege die Abdeckungsquote schon bei 100 Prozent. Aufnahmen aus Kameras und Nummernschild-Scannern etwa an Autobahnen würden automatisiert mit polizeilichen Datenbanken abgeglichen.

(Bild: HQuality/Shutterstock.com)

Hinzu trete in immer mehr Städten eine biometrische Gesichtserkennung. Nicht zu vergessen sei, dass alle Router, Switches, Server und Virtual Private Networks (VPN) in weiten Teilen Chinas genehmigt werden müssten. Es gebe Verordnungen für Foren, Live-Streaming, Content-Management-Systeme oder Online-Kommentare, deren Einhaltung teils mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) kontrolliert werde.

Hongkong hält laut dem früheren Vorsitzenden der Technologie-Kommission der Sonderverwaltungszone die Bürgerrechte noch höher. Die einstige britische Kronkolonie habe als erste Region Asiens ein umfassendes Datenschutzgesetz erlassen, das sich an der einschlägigen EU-Richtlinie von 1995 orientierte.

Nun versuche man, auch mit der neuen Datenschutzgrundverordnung Schritt zu halten, um eine Basis für den Datenaustausch mit Europa zu haben. Ohne spezielle Erlaubnis dürften Ämter in Hongkong Informationen über die Bürger nicht einfach untereinander weitergeben. Dienste wie Alipay müssten ihre Daten vor Ort aufbewahren. Wie lange diese Sonderregeln noch aufrechterhalten werden könnten, wisse aber niemand.

Daten aus der Videoüberwachung und zahlreichen Online-Quellen fließen in China selbst derweil laut einem Bericht der "Washington Post" in eine umfassende "Polizei-Cloud", mit deren Hilfe auch Software für "Predictive Policing" entwickelt werde. Spezialanbieter von Anwendungen zur Gesichtserkennung überschlagen sich mit Meldungen, wie viele potenzielle Verbrecher den Ordnungshütern mit ihrer Hilfe bereits ins Netz gegangen seien.

Face++-Hersteller Megvii spricht landesweit von mehreren tausend Verhaftungen Verdächtiger seit Start des Programms 2016, der Konkurrent SenseTime von 69 suspekten Individuen, die allein während eines Monats im Rahmen eines Pilotprojekts in der 30-Millionen-Metropole Chongqing verhaftet worden seien. Bei Konzerten soll die Polizei laut offiziellen Angaben dank Gesichtserkennungssoftware bereits Flüchtige ausfindig gemacht und wieder eingekerkert haben.

(Bild: Ryan DeBerardinis / Shutterstock.com)

Gesichtserkennungsscanner sorgen in einer Toilettenanlage des Himmelstempels in Peking dafür, dass kein Klopapier verschwendet wird. In einem Schnellrestaurant in Hangzhou muss man nur "lächeln" vor der Kamera, um sein Fast Food zu bezahlen. Im Gymnasium Nummer 11 der unweit von Schanghai gelegenen Großstadt tasten drei Kameras in einem Klassenzimmer alle 30 Sekunden die Gesichter von Schülern ab, um ihren Ausdruck zu analysieren und Stimmungen wie Überraschung, Traurigkeit, Ärger, Freude oder Angst zu erkennen. Ein Bildschirm zeigt dem Lehrer in Echtzeit daraus gewonnene Werte an. Der Computer warnt dabei davor, wenn die errechnete Aufmerksamkeit der Beobachteten unter ein gewisses Limit fällt.

Für westliche Beobachter steht zusammengenommen fest: Die Freiheit, vom Staat in Ruhe gelassen zu werden, schwindet in China endgültig. Die einheimischen Internetgiganten müssen sich den Vorwurf anhören, durch ihre Techniken zu Menschenrechtsverletzungen beizutragen. "Unter einer autoritären Regierung wie in China verwandelt die digitale Überwachung einen lästigen Polizeistaat in einen furchteinflößenden, alleswissenden", resümiert der Economist.

Vor allem im autonomen Gebiet Xinjiang wende Peking KI und Massenüberwachung an, um ein "Panoptikum des 21. Jahrhunderts" zu schaffen und Millionen der dort ansässigen muslimischen Uiguren zu kontrollieren. Die Städte in der Region seien alle 100 bis 200 Meter mit Kameras gespickt, die türkischstämmige Bevölkerungsgruppe müsse staatliche "Spyware" auf ihren Smartphones installieren, ihre Ausweise würden mit Zusatzangaben wie Fingerabdrücken. Blutgruppe, DNA-Informationen oder einem "Zuverlässigkeitsstatus" verknüpft.