Missing Link: Nothing to Hide, oder: Wie mit "Social Scoring" die Privatsphäre abgeschafft wird

Seite 5: Patriotische Mega-Überwachung

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Indien schicke sich an, den Nachbarn im Norden im Bereich der Bevölkerungskontrolle zu kopieren oder gar zu übertreffen, moniert Mishi Choudary, Präsidentin des Software Freedom Law Center India. So baue die Regierung mit der zentralen Mega-Datenbank Aadhaar ("das Fundament") gerade ein Identifikations- und Überwachungssystem nie gekannten Ausmaßes auf.

Rund 1,1 von knapp 1,3 Milliarden Indern habe schon eine entsprechende biometrische Kennung und sich dafür Fingerabdrücke sowie Aufnahmen der Iris oder des Gesichts abnehmen lassen. Ausgegeben werde das Ganze als "patriotisches Projekt", was Kritik erschwere. Letztlich seien aber wohl die Inder selbst damit das eigentliche Produkt und im Einklang mit den vorherrschenden Regeln der Plattformökonomie würden ihre Daten früher oder später an Dritte verkauft.

Die Registrierung für Aadhaar sollte ursprünglich freiwillig sein. Inzwischen ist sie aber Voraussetzung dafür, um in den Genuss hunderter staatlicher Leistungen vom Bezug von Reisrationen für Hungerleidende über die Sozialhilfe und Rente bis hin zu Schulprüfungen zu kommen. Die Wirtschaft zieht mit: Auch wer ein Bankkonto eröffnen, einen Kredit erhalten, ein Mobiltelefon registrieren oder eine Reise buchen will, muss oft erst die zwölfstellige eindeutige Nummer vorlegen, die mit den zugehörigen persönlichen Basisinformationen und biometrischen Daten verbunden ist. Wer keine Aadhaar-Kennung hat, existiert für die Verwaltung und zahlreiche Firmen gar nicht mehr.

Selbst von Neugeborenen werden in Kliniken oft die einschlägigen Körpermerkmale erhoben, obwohl diese noch nicht richtig ausgebildet sind. Viele Ältere wiederum haben nach einem Leben voller harter Handarbeit keine maschinell lesbaren Fingerabdrücke mehr. Vor allem in ländlichen Teilen des Subkontinents gibt es zudem Probleme mit den Internetverbindungen, die nötig sind, um sich mit dem Zentralregister zu verbinden. Forscher haben herausgefunden, dass es im Bundesstaat Jharkhand 20 Prozent der Haushalte nicht gelang, ihre Essensrationen mithilfe einer Aadhaar-gestützten Verifizierung zu bekommen.

(Bild: Gerd Altmann, Lizenz Public Domain (Creative Commons CC0))

Auch die Sicherheit des Systems ist mehr als fraglich. Berichten zufolge soll eine Einsichtnahme in das Kernverzeichnis mit den besonders sensiblen Biometriedaten schon für ein paar Euro verscherbelt worden sein. Zudem gab es Datenabflüsse über Hunderte darauf zugreifende Regierungswebseiten. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis das aufgeblasene System in Grund und Boden gehackt werde, glaubt Choudary. Mehrere hunderttausend Duplikate der Identitätsnachweise seien bereits erstellt worden. Zum Glück gebe es in Indien aber eine "lebhafte Zivilgesellschaft", sodass nach vielen Verfassungsbeschwerden nun mit großer Spannung die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs erwartet werde. In einem in dem Rechtsstreit bereits ergangenen Beschluss hatte dieser voriges Jahr zunächst die Privatsphäre als Grundrecht für alle Bürger des Landes anerkannt und damit eigene frühere Beschlüsse revidiert.

Premierminister Narendra Modi sowie der mit IT-Dienstleistungen reich gewordene "Aadhaar-Vater" Nandan Nilekani feiern das Programm dagegen als Indiens Ticket in die Zukunft. Millionen ihrer Landsleute erhielten damit erstmals eine nachweisbare Identität, die Korruption und das Erschleichen staatlicher Leistungen könnten effizienter bekämpft werden. Für sie handelt es sich um ein großes digitale Infrastrukturprojekt, das mit dem Bau von Autobahnen und Stromleitungen vergleichbar ist. Transaktionsdaten würden zudem nicht geteilt, Ämter dürften sämtliche Informationen rund um Aadhaar ohne weitere Zustimmung der Betroffenen nur "zweckgebunden" verwenden.

Alles schön und gut, entgegnet die Bürgerrechtlerin Choudary, aber für diese Ziele könnte das Projekt viel datensparsamer angelegt werden. Es würde ausreichen, die biometrischen Merkmale allein auf der Identitätskarte und nicht zentral zu speichern. Der Verdacht liege daher nahe, dass es den staatlichen und privaten Beteiligten doch um eine möglichst lückenlose Verhaltenskontrolle der gesamten Bevölkerung gehe.

Aber nicht nur Bürgerrechtler in Asien gehen auf die Barrikaden. Auch in westlichen Industrieländern beobachtet man die mehr oder weniger offen zur Schau getragenen Begehrlichkeiten von Sicherheitspolitikern mit Sorge: Könnten sie sich doch China und Indien als Vorbild nehmen – man lebe schließlich nicht in einer Diktatur, müsse aber für die Sicherheit der Bevölkerung sorgen. Das erinnert fatal an das einst vom damaligen Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich proklamierte "Super-Grundrecht Sicherheit". (jk)