Missing Link: Unterschätzte Gefahr? Obsolete Technik im Körper

Seite 2: "Eine fantastische Technologie und ein lausiges Unternehmen"

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Perk hatte bislang auch nach dem Support-Stopp Glück im Unglück. Im November 2020 zerbrach seine Grafikeinheit. Er informierte die europäische Argus-II-Community darüber und fragte nach Ersatzteilen. Ein Patient, der sein Gerät nicht mehr benutzte, und ein Arzt versorgten ihn mit einem generalüberholten System.

(Bild: Shutterstock)

Ross Doerr nahm als weiterer Betroffener gegenüber dem Magazin kein Blatt vor den Mund: "Es ist eine fantastische Technologie und ein lausiges Unternehmen." Er erhielt 2019 ein Implantat und erinnert sich daran, wie er die Lichter der Weihnachtsbäume sah. Er war begeistert, als ihm Anfang 2020 Software-Upgrades versprochen wurden, die seine Sehkraft weiter verbessern könnten. Doch er hörte beunruhigende Gerüchte über den Produzenten und rief seine Second-Sight-Sehtherapeutin an. Sie habe ihm gesagt: "Wir wurden gerade alle entlassen."

Als Doerr 2020 mit Schwindel zu kämpfen hatte, verordnete sein Arzt eine MRT-Untersuchung, um einen Hirntumor auszuschließen. Da die dabei eingesetzten starken Magnetfelder mit Argus II in Konflikt geraten könnten, war es nötig, Second Sight zu kontaktieren. Doch dort ging damals schon keiner mehr ans Telefon. Doerr bekam schließlich nur einen CT-Scan, der nichts ergab. Er beklagt: Ein Tumor sei nach wie vor nicht ausgeschlossen. Froh sei er inzwischen, kein Orion-Hirnimplantat bekommen zu haben, da hier bei einem Versagen noch viel mehr Probleme zu erwarten seien.

Über Gehirn-Computer-Schnittstellen können Nutzer mit ihren Hirnströmen in Form elektronischer Felder Rechner steuern. Solche teils direkt als Neuroimplantate eingepflanzte Brain-Computer-Interfaces (BCI) wandern aus der Forschung zunehmend in praktische Anwendungen etwa in den Bereichen Medizin, Virtual Reality und Gaming. Einige Technologien, die mit dem menschlichen Nervensystem interagieren, sind bereits etabliert. Dies gilt etwa für Tiefenhirnstimulatoren, die das Zittern bei Parkinson-Patienten reduzieren.

Die jüngsten Fortschritte in der Neurowissenschaft und der Digitaltechnik haben einen Goldrausch auf diesem Feld ausgelöst. Zugpferd ist der Tesla- und SpaceX-Gründer Elon Musk mit seinem Unternehmen Neuralink, das sich auf Gehirnimplantate spezialisiert, aber noch wenig Konkretes geliefert hat. Andere Akteure versprechen, Depressionen zu heilen, Alzheimer erträglicher zu machen, die Mobilität wiederherzustellen oder sogar übermenschliche Fähigkeiten zu verleihen.

Nicht allen Unternehmen in diesem Bereich dürfte Erfolg beschieden sein. Doch was passiert, wenn innovative Implantate scheitern oder verschwinden wie Klapphandys, BlackBerrys und Betamax? Oder Hersteller pleitegehen?

Ein Beispiel einer obsoleten Hirn-Computer-Schnittstelle hat das US-Magazin Wired schon 2016 beschrieben. Der Forscher Phil Kennedy ließ sich demnach ein selbst entwickeltes BCI einpflanzen. Im Anschluss an seine damit durchgeführten Experimente verblieb die Mikroelektrode in seinem Hirn, da andernfalls der Schädel hätte geöffnet werden müssen, um sie aus dem sensiblen Gewebe im Kopf "herauszuziehen": Mikroelektroden von Neuroimplantaten sind darauf ausgelegt, in die Nervenstränge einzuwachsen. Daher wäre eine Entfernung risikoreich und mit Nebenwirkungen verbunden.

Mikroelektroden werden ständig leistungsfähiger. Daher dürfte es sich bei Kennedys Implantat mittlerweile um eine veraltete Technologie handeln. Es wird daher künftig gerade auf diesem Gebiet eine wichtige Rolle spielen, wie sich Folgen einer potenziellen Obsoleszenz "by Design" möglichst gering halten lassen.

Experten schweben hier etwa wenig invasive Methoden des Implantierens und Herausnehmens, Auflagen für Interoperabilität, Optionen für die Wartung aus der "Ferne" beziehungsweise im Nahfeld etwa in einer Praxis oder Klinik und eine vorab abgestimmte Materialwahl vor. Grundsätzlich spielen im Gehirn viele Faktoren eine Rolle, die sich auf die Funktionsfähigkeit eines BCI auswirken und zum raschen Veralten der Technik beitragen könnten. So verschieben sich relevante Neuronencluster mitunter. Dies beruht auf der Fähigkeit des Gehirns, seinen Aufbau und seine Funktionen so zu verändern, dass es durch neue Synapsen optimal auf äußerliche Einflüsse und Anforderungen reagieren kann (Neuroplastizität).

Von Obsoleszenz, unter der bisher vor allem Smartphone-Nutzer litten, dürften künftig etwa auch Träger von Insulinpumpen, Herzschrittmachern oder Kardioverter-Defibrillatoren betroffen sein. Diese Geräte können nicht ohne Weiteres ersetzt oder auch nur entfernt werden. Gelegentlich ist hier – wie bei Kennedys Hirnimplantat oder Argus II – das Risiko eines operativen Eingriffs höher als das Wagnis, die Technik im Patienten zu belassen, auch wenn dadurch ebenfalls Schäden auftreten könnten.