Missing Link: FAZ auf Facebook ist wie Müsli bei McDonald's

Seite 4: Lange Rede, langer Sinn

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Meine Arbeit als Journalist besteht nur zu einem Teil aus recherchieren und schreiben, der größere Teil besteht aus nachdenken über die Themen als solche und über die Zusammenhänge zu anderen Themen, und reflektieren der eigenen Tätigkeit, wie ich vor zwei Wochen erläuterte. Der Sinn der Übung ist es auch, mir der Heuristiken bewusst zu werden, die im schnellen Nachrichtengeschäft beim Schreiben von Meldungen überhandgewinnen können, die weniger, aber auch in den ebenso schnell verfassten Kommentaren zum Tragen kommen können. Eine weitere Stufe der Reflexion stellt die hier dargebrachte Form dar, die nicht nur mich, sondern auch die Leser zum vertieften Nachdenken anregen soll. Sie kann im Vergleich zu einer länger angelegten wissenschaftlichen Untersuchung meist nur Fragen aufwerfen, entsteht aber in einem Prozess "langsamen Denkens", wie es der Psychologe Daniel Kahneman nennen würde, und soll auch die Leser zu solchem anregen.

Wir Journalisten sind ebenso aus diversen Quellen Propaganda ausgesetzt und müssen in uns schauen, ob wir ihr erliegen. Mit unseren Texten und Reflexionen werden wir nicht die erreichen, die auch bei glasklarer Faktenlage ihre Aluhüte nicht abnehmen wollen. Aber sie können diejenigen Menschen erreichen, die zuhören wollen und die Propagandisten glauben würden, wenn es keine Gegenrede gäbe und niemanden, der ihnen bewusst zu machen versucht, dass die Dinge komplexer sind als sie scheinen. Auch daran ist ersichtlich, wie wichtig Meinungsfreiheit ist.

Ein Leser wies mich darauf hin, dass der Umfang meines Artikels kontradiktisch zu meiner Absicht stehe, die Menschen aufzuklären. Für ihn liebe die persönliche "Verständnisgrenze" bei 180 Wörtern. Mit der relativ langen nötigen Lesezeit würde ich von vornherein diejenigen abhängen, die ich erreichen wolle. Ja, ich könnte einen sehr kurzen Artikel verfassen, der lediglich die Sätze enthält: "Denkt nach! Reflektiert Euch!" Dazu müsste manchen Lesern aber vielleicht auch erst einmal gezeigt werden, wie das gehen könnte. Auch ließe sich mit längeren Gedankenflüssen ein Gegenmodell zu den schnellen, kurzen Informationsfragmente in den sozialen Medien setzen, die gerade nicht zum langsamen Denken anregen.

Der Philosoph Michael Hannon von der Universität Nottingham weist auf einen weiteren Aspekt hin, den er durch seine Nachforschungen ermittelt hat: nämlich, dass die politisch sachkundigsten Menschen meist auch die parteiischsten seien. Das erläutert er in einem aktuellen Übersichtsartikel unter einem Zitat von Benjamin Franklin, einen der Gründerväter der USA: "Ein gebildeter Dummkopf ist ein größerer Dummkopf als ein ignoranter." An dieser Stelle würden Kurzatmige, die schnell zu anderem abbiegen, behaupten, ausgiebige Information führe nicht zu einer ausgewogenen Meinung, eher im Gegenteil. Wer Hannons Ausführungen aber weiter folgt, dem wird zunächst einmal die Spannung vorgeführt, die zwischen dem Ideal des "informierten Bürgers" in einer Demokratie und der Korrumpiertheit durch Sachkunde besteht.

Als einen Lösungsweg bietet Hannon an, sich weniger auf das Wissen des Wahlvolks zu konzentrieren als mehr auf die intellektuelle Tugend der Objektivität. Das entspricht dem mir selbst gestellten Anspruch, doch Hannon meint, es bestehe hier die Möglichkeit, dass so auch die politische Apathie gefördert werden könne. Nun, die Flächenwirksamkeit eines Hohlkopfs wie Trump objektiv zu beobachten, könnte mich verzweifeln lassen und in Apathie stürzen. Stattdessen schaue ich besser nach narzisstischen Tendenzen in mir, um Menschen wie Trump und ihre Wirkung besser verstehen zu lernen.

Wenn aus meinen Ausführungen am vorvorigen Sonntag der Eindruck entstanden sein sollte, ich hätte die klassische Medienwelt rosarot gezeichnet, kann das auf dem Missverständnis gründen, ich sähe den gegenwärtigen Zustand der Medien und der Gesellschaft als ideal an. Dem ist nicht so, aber bei allen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten, die in unserem Land immer noch existieren, hat das nach dem Zweiten Weltkrieg installierte politische System mitsamt den Medien in der Bundesrepublik immerhin dazu geführt, dass Deutschland nicht weiterhin die Welt anzündet und Menschen verbrennt und es den Einwohnern vergleichsweise gut geht.

Es ist weiterhin fraglich, ob unser gegenwärtiges Wirtschaftssystem dafür geeignet ist, Ungerechtigkeiten zu beseitigen oder auch dem Klimawandel Einhalt zu gebieten. Auf dem Gebiet der Medien haben sich anhand des Spiegel mit seiner Relotius- und der nach dem Nachrichtenmagazin benannten Affäre im Jahr 1962 zwei Extreme möglichen Missstands aufgezeigt, aber ebenso, dass es Mechanismen für eine Aufarbeitung und Korrektur gibt. Vor vierzig Jahren hatte ich in meinem Aufbegehren nicht geglaubt, dass ich jemals so etwas denken, geschweige denn in der Öffentlichkeit schreiben würde. Stabil geblieben ist über die Jahrzehnte meine Skepsis gegenüber der Atomkraft, die mich bis zur Wende der Bundesregierung in der Atompolitik 2011 wohl noch als "Linker" gestempelt hätte.

Die aktuelle Chefin der deutschen Regierung, Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte zu Trump Rauswurf aus den sozialen Medien, der Schritt sei vor dem Hintergrund der Meinungsfreiheit problematisch. Unsere Kolumnistin Julia Reda sieht wiederum Merkels Äußerung als problematisch an und lobt vor diesem Hintergrund den Entwurf der EU-Kommission für einen Digital Services Act. Plattformen sollen demnach zwar weiterhin ihre eigenen Moderationsregeln definieren dürfen, sie müssen aber transparent sein und die Plattformen bei deren Durchsetzung die Meinungsfreiheit beachten.