Nachruf auf ein unersetzliches Teleskop: ¡Adiós, Arecibo!

Seite 2: USP: 25 Billionen Watt EIRP

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Weltweit trauern Wissenschaftler um das Riesenteleskop. Es sei nicht durch andere existierende Radioteleskope zu ersetzen, zitiert Gizmodo Dr. Anne Virkki, Leiterin des Radar-Teams am Arecibo Teleskop. Noch kurz vor dem Versagen des ersten Kabels hatte sie einen erdnahen Asteroiden mit dem Teleskop beobachtet und durch eine genaue Bahnbestimmung ermittelt, dass der zuvor als potenziell gefährlich eingestufte Asteroid in absehbarer Zeit nicht mit der Erde kollidieren werde. Denn der USP des Teleskops war ein starker Radarsender, zuletzt mit einem Megawatt Einspeiseleistung, die das Teleskop durch Bündelung relativ zu einem Rundstrahler um das 25 Millionenfache verstärken konnte (Funktechniker sprechen von einer effektiv isotrop rundgestrahlten Leistung, "Effectively Isotropic Radiated Power", EIRP), um damit Asteroiden, den Planeten Venus und sogar den Saturnmond Titan in zehnfacher Sonnenentfernung (1,5 Milliarden km Entfernung) zu beleuchten und abzutasten.

Dass es nicht noch weiter entfernte Objekte mit seinem Radarstrahl erfassen konnte, lag nicht an etwa an mangelnder Leistung, sondern lediglich daran, dass sein Signal zum Saturn und zurück mit gut zweieinhalb Stunden ziemlich genau so lang unterwegs war, wie das Teleskop das Zielobjekt in seinem 40° durchmessenden Blickfeld halten konnte, bevor jenes aufgrund der Erdrotation hinaus wanderte. Ein Radarecho vom doppelt so weit entfernten Uranus hätte das Teleskop nicht mehr rechtzeitig erreichen können.

Die Ausstattung mit einem leistungsstarken Radarsender und auch seine Größe verdankt das Teleskop einem Militärprojekt – und einem Rechenfehler. Im sich zuspitzenden Kalten Krieg während der 1950er Jahre erforschte das US-Militär, wie es die bei einem nuklearen Angriff mit Interkontinentalraketen eingesetzten Täuschkörper, die eine ballistische Raketenabwehr austricksen sollten, auf mehrere Tausend Kilometer Entfernung von echten Sprengköpfen würde unterscheiden können. Es war bekannt, dass in die Lufthülle eintretende schnelle Objekte eine Ionisationsspur durch die Atmosphäre ziehen, die Radarwellen reflektiert und man hoffte, dass sich die Radarechos von Täuschkörpern und echten Sprengköpfen klar unterscheiden ließen.

Über die Physik der Ionosphäre war jedoch noch zu wenig bekannt, und so ließ die Advanced Research Projects Agency (ARPA) Anfang der 1960er mehrere Radarstationen und das Arecibo-Teleskop errichten. Wobei das Teleskop aufgrund eines Rechenfehlers für die geplante Ionosphärenforschung mit Radarwellen – zum Glück für die Radioastronomie! – um einen Faktor 10 zu groß ausgelegt wurde.

Das Arecibo-Teleskop (9 Bilder)

(Bild: Arecibo Observatory)

Die schiere Größe des Teleskops hat drei Vorteile: erstens ist die Signal sammelnde Fläche 9 bis 10 Mal so groß wie die der größten schwenkbaren Einzelteleskope, zu denen beispielsweise das Effelsberger Radioteleskop in der Eifel zählt, und somit kann Arecibo entsprechend schwächere Signale aufspüren. Zweitens ist für eine gegebene Wellenlänge die Auflösung, also des Vermögen, den Ort einer Signalquelle zu lokalisieren oder Details einer Quelle zu erkennen, um den Faktor 3 höher als bei den vorgenannten Teleskopen. Und drittens kann umgekehrt auch ein gesendetes Signal mit einer großen Schüssel stärker gebündelt werden als mit einer kleineren Antenne; das einzige andere im Betrieb befindliche Radioteleskop, das über einen starken Radarsender verfügt, ist die 70-m-Schüssel in Goldstone, deren Verstärkungsfaktor (Gewinn) nur 1/19 desjenigen der Arecibo-Schüssel beträgt; diese erreicht bei 2.4 GHz 74 dBi, eine Verstärkung um den Faktor 25 Millionen. Bis zum Jahr 2016 blieb Arecibo das größte Radioteleskop der Welt.

Das Teleskop war von Beginn an auch für den zivilen Einsatz in der Radioastronomie konzipiert worden. Da es aufgrund seiner Größe nur starr im Boden verbaut werden konnte, wählte man einen Standort in den Tropen, möglichst weit südlich aber noch quasi auf US-amerikanischem Boden gelegen: Puerto Rico gehört zu den nichtinkorporierten Außengebieten der Vereinigten Staaten und bemüht sich seit vielen Jahren (vergeblich), 51. Bundesstaat der USA zu werden. Die äquatornahe Position erlaubte dem Empfänger, der einen Streifen von -1° bis 39° Breite am Himmel abdeckte und durch die Erdrotation täglich alle 360° der Längengrade überstrich, die Planeten und viele erdnahe Asteroiden sowie das Zentrum der Milchstraße und den Virgo-Galaxienhaufen in sein Sende- und Empfangsfeld zu bekommen. Das Karstgestein der Insel, in dem durch Unterspülung Einsturzkrater, "Dolinen", entstanden waren, bot natürliche Vertiefungen, in die man die Schüssel des Teleskops integrieren konnte.

Durch die starre Konstruktion der Schüssel schien das Teleskop auf den ersten Blick dazu verdammt zu sein, stets senkrecht nach oben schauen zu müssen. Hätte man es mit einem starren Empfänger auf einem zentralen Turm versehen, wie einer der ursprünglichen Designvorschläge gelautet hatte, wäre das auch der Fall gewesen, aber die Ingenieure und Physiker tüftelten eine geniale Konstruktion aus: einen entlang einer gebogenen Schiene verschiebbaren und neigungsfähigen Sekundärspiegel. Die Schiene konnte ihrerseits um 360° in der Waagerechten rotiert werden. Die Empfangsplattform wird über eine von drei Türmen außerhalb der Schüssel gehaltene Seilkonstruktion 150 Meter über derselben in der Schwebe gehalten und kann zur Wartung oder Schutz vor Stürmen auf Haltestangen in der Mitte der Schüssel heruntergelassen werden. Auf diese Weise konnte der Sekundärspiegel aus verschiedenen Richtungen im schiefen Winkel in den Primärreflektor hineinschauen und somit ein Sichtfenster von 40° Durchmesser am Himmel erreichen.

Normalerweise verwenden Radioteleskope paraboloide Reflektoren, denn ein Paraboloid bündelt parallel einfallende parallele Wellen in einem Brennpunkt, was allerdings nur in einem kleinen Winkelbereich um die Symmetrieachse des Paraboloids funktioniert – schräg einfallende Wellen werden nur ungenügend fokussiert, daher muss die Schüssel exakt auf das Ziel ausgerichtet werden. Arecibo verwendet hingegen einen sphärischen Primärreflektor, die abgeschnittene Kappe einer Kugel mit einem Krümmungsradius von 265 Meter. Diese bündelt parallel einfallende Strahlung zwar für überhaupt keinen Einfallswinkel in einem Punkt, aber der Fehler ist wegen der Kugelsymmetrie weniger richtungsabhängig als bei einem Paraboloid und kann durch einen ebenfalls sphärischen Sekundärreflektor kompensiert werden. Seit 1997 gab es eine kuppelförmige Aufnahme für den Sekundärreflektor, die noch einen dritten Reflektor enthielt, der die Radiosignale auf einen festen Punkt im Empfängerraum an der Oberseite der Kuppel fokussierte, wo verschiedene austauschbare Empfänger installiert werden konnten. Das Teleskop gehörte nie zum alten Eisen, sondern wurde stets auf dem letzten Stand der Technik gehalten und für die nächste Aufrüstung standen schon neue Instrumente bereit.

Neben der Kuppel war eine 30 Meter lange Antenne für 430 MHz installiert, die prominent im James Bond Film "Golden Eye" beim Kampf zwischen Bond und den Schurken Trevelyan in Szene gesetzt wurde. Diese Antenne diente auch der Ionosphärenforschung. Man sendete starke Radarpulse in die Ionosphäre, die dort vom elektrisch leitenden Plasma reflektiert wurden. Die Dopplerverschiebung des Signals gab Aufschluss über die Bewegung der Elektronen und den Zustand der Ionosphäre (Temperatur, Druck, Elektronendichte, Drift des Gases).

Aber zu Ruhm kam das Teleskop nicht wegen der Ionosphärenforschung, sondern wegen seiner zahlreichen astronomischen Entdeckungen.