Nachruf auf ein unersetzliches Teleskop: ¡Adiós, Arecibo!

Seite 4: Eis auf dem Merkur, Seen auf Titan

Inhaltsverzeichnis

1992 fand Arecibo bei Radarbeobachtungen des Merkur, dass sich in Kratern an den Polen des Planeten, deren Grund im ewigen Schatten liegt, möglicherweise Eis befindet. Durch die Bahnneigung des Merkur gegen die Erdbahn konnte Arecibos Radar in die Krater hineinleuchten und bemerkte eine Modifikation des Radarechos, die am besten mit Eis zu erklären war. 2012 konnte die Merkursonde Messenger, die den Planeten von 2011 bis 2015 umkreiste, das Vorhandensein von Eis mit Hilfe ihres Neutronen-Spektrometers verifizieren. Wahrscheinlich haben Kometen das Eis in den Kratern deponiert, den mit -90 °C kältesten Orten auf dem Planeten, auf dem ansonsten bis zu 430 °C herrschen.

2003 sendete Arecibo sein Radarsignal zum Saturnmond Titan, ein gutes Jahr vor der Ankunft der NASA Cassini-Raumsonde und der mitgeführten ESA-Sonde Huygens, die im Januar 2005 auf Titan landen sollte. Da man die Temperatur- und Druckverhältnisse auf Titan kannte (eine Stickstoff-Methan-Atmosphäre bei -180 °C und 1,6 Atmosphären Druck, mehr als auf der Erde – Bedingungen, unter denen Methan noch flüssig ist und bei ein paar Grad mehr gasförmig wird), hatte man spekuliert, dass es auf Titan Meere aus flüssigem Methan geben könnte. Tatsächlich empfing man mit Goldstone oder Arecibo selbst in 3/4 der Beobachtungen Radarechos, die auf ebene Flächen wie denjenigen einer glatten Flüssigkeit oder einer Oberfläche erstarrten Methans auf Teilen des Mondes hindeuteten. Die Flächen reflektierten nur 2% des Radarsignals, was für nichtleitende Kohlenwasserstoffe typisch ist. Die Radarechos deuteten auf Seen von einigen 10 bis 100 km Größe hin, nicht jedoch auf große Ozeane. Tatsächlich fand Cassini im Vorbeiflug am Titan aus einigen tausend bis hundert Kilometern Entfernung mit Hilfe seines Radars und seiner Infrarotkameras die von Arecibo und Goldstone georteten Seen – die diese zuvor aus 1,5 Milliarden Kilometern Entfernung entdeckt hatten. Huygens ging schließlich auf trockenem Boden am Fallschirm nieder.

1989 wurde das Weltraumteleskop Hipparcos gestartet, um die Parallaxen einiger hunderttausend Sterne mit vorher nicht erreichter Präzision zu vermessen und somit die Leiter der astronomischen Entfernungsmessung auf eine neue, bessere Grundlage zu stellen. Den Messungen von Hipparcos und dem Hubble-Teleskop verdanken wir die Verbesserung unseres Wissens über die Größe und das Alter des Universums von vormals ±50% auf einige Prozent genau, sowie die Entdeckung der Dunklen Energie.

Ausgerechnet für das nahe Siebengestirn der Plejaden liefert Hipparcos allerdings ein Ergebnis, das mit 392±5 Lichtjahren rund 10% kleiner war als die von der Erde aus bestimmten 435±4 Lichtjahre. Dies war deswegen problematisch, weil Sternhaufen zur Kalibrierung der Sternentwicklung dienen – hier hat man eine Reihe von Sternen in gleicher Entfernung mit gleichem Alter und kann ihre Entwicklung und Helligkeiten mit Sternen bekannten Typus’ vergleichen. Die Plejaden sind das nächstgelegene Sternentstehungsgebiet mit jungen blauen Sternen – wenn man ihre Entfernung hier nicht genau bestimmen konnte, wo sonst? 2014 nahm Arecibo an einer VLBI-Messkampagne teil (VLBI = Very Large Baseline Interferometry), bei der mehrere Radioteleskope weltweit, darunter Arecibo, Green Bank und Effelsberg, zusammengeschaltet wurden, um die Parallaxe der Plejadensterne zu messen. Sie fanden eine Entfernung von 444±4 Lichtjahren. Die Hipparcos-Nachfolgerin Gaia bestätigte im ersten Datenrelease 2016 die Entfernung mit 437±20 Lichtjahren und im zweiten 2018 mit 444±16. Das dritte Release wird in diesem Monat veröffentlicht werden und die Genauigkeit weiter erhöhen. Hipparcos lag hier also offenbar falsch.

Das Siebengestirn der Plejaden, auch Messier 45 genannt, ist ein nahe gelegener Sternhaufen, der durch blauweiße Sterne dominiert wird, die nächsten ihrer Art. Die 6-8 hellsten Sterne, die den sie umgebenden Staub beleuchten, sind im Herbst am östlichen Abendhimmel mit bloßem Auge leicht als dichte Sterngruppe zu erkennen. Neben diesen Sternen enthält der Sternhaufen der Plejaden rund 200 lichtschwächere Sterne. Solche Sternhaufen sind bedeutend zur vergleichenden Charakterisierung verschiedener Sterntypen, da die Sterne alle gleich weit entfernt und gleich alt sind.

(Bild: NASA, ESA, AURA/Caltech, Palomar Observatory)

Fast Radio Bursts (FRB) sind ein Rätsel, das zurzeit kurz vor der Auflösung zu stehen scheint. Zunächst waren die ultrakurzen, nur Millisekunden andauernden Radiopulse mit Ursprüngen in entfernten Galaxien ausschließlich in Archivdaten des Parkes Radioteleskops in Australien gefunden worden. In Arecibo-Aufzeichnungen vom 2. November 2012 fand man erstmals einen FRB in den Daten eines anderen Radioteleskops – nachdem man schon angenommen hatte, es handele sich um Fehldetektionen, die von einem Mikrowellenherd im Parkes-Büro unter dem Teleskop ausgelöst worden waren. Besonders bedeutsam war, dass Arecibo im Mai 2016 einen erneuten FRB von offenbar derselben Quelle wie 2012 nachweisen konnte, das erste Indiz dafür, dass es sich hierbei um kein kataklysmisches Ereignis handeln konnte, das seine Quelle vernichtete, wie es eine Supernova, verschmelzende Neutronensterne oder ein zerfallendes Schwarzes Mini-Loch wären, die damals als Kandidaten gehandelt wurden. 2020 fand man einen FRB, der offenbar von einem Magnetar, einem Neutronenstern mit einem ultrastarken Magnetfeld ausging, und man nimmt mittlerweile an, dass Magnetare die Quellen aller FRBs sind, wobei der zugrunde liegende Mechanismus allerdings noch unklar ist.

In physikalischen Gleichungen tummeln sich eine Reihe von Größen, die einen konstanten Wert haben, wie zum Beispiel die Gravitationskonstante, die Lichtgeschwindigkeit oder das Plancksche Wirkungsquantum. Deren Werte können in Experimenten gemessen werden, sie erweisen sich als stets gleich groß, harren aber jeder weiteren Erklärung ihres Betrags (genau genommen wird die Lichtgeschwindigkeit durch zwei andere Konstanten bestimmt, die elektrische und die magnetische Feldkonstante, die dann jedoch wiederum nicht auf ein grundlegenderes Prinzip zurückgeführt werden können). Eine wichtige Frage ist, ob diese Konstanten wirklich unveränderlich sind, oder an anderen Orten oder zu anderen Zeiten geringfügig andere Werte gehabt haben.

Dieser Nachweis ist in keinem Labor der Welt möglich – aber zum Glück eröffnet uns das Universum als Labor aufgrund der endlichen Geschwindigkeit des Lichts sowohl den Blick in die Ferne als auch in die Vergangenheit. Um die Werte der Naturkonstanten auf große Entfernung zu bestimmen, muss man auf die Beobachtung physikalischer Prozesse zurückgreifen, in welche die Konstanten mit eingehen und die man mit lokalen Prozessen im Labor vergleichen kann. Die sogenannte Feinstrukturkonstante setzt sich aus der Lichtgeschwindigkeit (bzw. den Feldkonstanten), der Elementarladung und dem Planckschen Wirkungsquantum zusammen; ihre Konstanz erschlägt damit gleich mehrere Naturkonstanten (falls diese sich nicht untereinander verschworen haben, lediglich ihre Kombination konstant zu halten).

Die Feinstrukturkonstante bestimmt die Stärke der Wechselwirkung zwischen Elementarteilchen. Bei einer Änderung um mehr als 4% wären die Kernprozesse in den Sternen nicht mehr möglich, aber kleinere Variationen wären vorstellbar. Sie bestimmt zum Beispiel die Energieniveaus, die Elektronen im Atom annehmen, je nachdem wie ihr quantenmechanisches Drehmoment (Spin) relativ zum ihrem Umlaufum den Atomkern gemäß dem Bohrschen Atommodell orientiert ist (Spin-Bahn-Kopplung). Die beiden möglichen Orientierungen des Spins sorgen für zwei eng benachbarte Energieniveaus für den ansonsten gleichen Wechsel von einer Schale zur anderen unter Aussendung oder Absorption von Licht, also mithin für eine entsprechende Verdopplung der Spektrallinien, eine Feinstruktur der Linien (die Relativitätstheorie sorgt für weitere Feinstruktur-Niveaus im Spektrum). Eine Änderung der Feinstrukturkonstanten sollte sich darin äußern, dass der Abstand der Feinstruktur-Spektrallinien sich heute im Vergleich zur fernen Vergangenheit verändert hat.

Im Januar 2017 präsentierten Nissim Kanekar, Jayaram Chengular und Tapasi Ghosh eine über mehrere Jahre mit dem Arecibo-Teleskop durchgeführte Messung der Radio-Spektrallinien von Hydroxyl-Molekülen in der Umgebung des 3,27 Milliarden Lichtjahre (Rotverschiebung z=0,2467) entfernten Quasar PKS 1413+135. Die lange Beobachtungsdauer von zusammengerechnet 150 Beobachtungsstunden erlaubte eine Genauigkeit der Messung von 1,3 ppm (Millionstel). Innerhalb dieser Messgenauigkeit konnten die Autoren keine Veränderung der Feinstrukturkonstanten nachweisen.

Seit vielen Jahren nahm Arecibo Radarbilder von erdnahen Asteroiden (Near Earth Asteroids, NEA) auf, um deren Größe, Rotation und Position genau bestimmen zu können und etwaige Asteroidenmonde zu orten. Vor allem die Positionsbestimmung ist sehr wichtig, um mit ausreichender Genauigkeit vorausberechnen zu können, ob ein die Erdbahn kreuzender Asteroid zukünftig mit der Erde kollidieren könnte. Rund 120 NEAs werden pro Jahr vom planetaren Radar aufs Korn genommen. Das planetare Radar besteht aus den Radioteleskopen in Arecibo, der 70-m-Schüssel in Goldstone, die ebenfalls mit einem Radarsender ausgestattet ist, und der 100-m-Antenne in Green Bank, die nur als Empfänger betrieben werden kann.

2014 gelangen spektakuläre Aufnahmen des Asteroiden 2014 HQ124. Im Jahr 2017 wurde der potenziell gefährliche Asteroid 3200 Phaeton, der die Quelle der Geminiden-Meteore ist, vom planetaren Radar erfasst und seine Größe zu 6 km bestimmt – in der Größenordnung des Chixulub-Asteroiden, der für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich gemacht wird und damit langfristig das potenziell gefährlichste Objekt ist, das die Menschheit kennt.

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Glücklicherweise erlaubten die Messungen eine Bahnbestimmung, die eine kleinste Distanz von Phaetons Bahn zur Erbahn von 2,9 Millionen Kilometern (7,5 Mondentfernungen) ergab. Die nächsten Annäherungen des Asteroiden in den kommenden 400 Jahren sind nun gut vorauszuberechnen und allesamt harmlos.

Der letzte potenziell problematische Asteroid 2020 NK1 war erst Mitte Juli 2020 entdeckt worden. Der Asteroid hatte nach den ersten Bahnbestimmungen eine kleine Chance von 1:70.000, zwischen 2086 und 2101 mit der Erde zu kollidieren und war mit 150 m Durchmesser groß genug, kontinentale Verwüstungen anzurichten. Er war deshalb zu dieser Zeit das einzige Objekt auf der Turiner-Skala, das sich auf Stufe 1 befand. Im Oktober veröffentlichte das Team des Planetary Radar unter der Leitung von Anne Virkki, dass der Asteroid der Erde auf absehbare Zeit nicht näher als 3,6 Millionen km, etwa 9 Mondentfernungen, kommen werde und damit wieder auf Stufe 0 zurückgestuft werden konnte.

Dies sind nur die wichtigsten Highlights aus der Geschichte des Riesenteleskops. Eine zum 50. Geburtstag 2013 veröffentlichte längere Liste findet sich hier.

Was wird nun aus den Forschungen von Arecibo? Einige Experimente werden zu anderen, kleineren Teleskopen umziehen und damit an Genauigkeit verlieren. Insbesondere wird das planetare Radar seinen stärksten Sender verlieren. Das NANOGrav-Experiment, das in den Pulsfrequenzen von 47 Millisekundenpulsaren nach den Signaturen durchlaufender Gravitationswellen im Nanohertz-Bereich (Pulsdauer-Variationen über Jahrzehnte) sucht, wird wohl ohne Arecibo nicht fortgesetzt werden können, beklagte Jill Tarter gegenüber dem Scientific American.

In einer Karstdoline im Südwesten Chinas wurde zwischen 2011 und 2016 ein Radioteleskop noch größeren Ausmaßes errichtet, das "Five-hundred-meter Aperture Spherical radio Telescope", Spitzname Tianyan ("Himmelsauge"), das sogar 520 m Durchmesser besitzt und dessen Form dynamisch über Stellelemente in eine Paraboloidform verändert werden kann, je nachdem in welche Richtung es gerade schaut. Davon können allerdings zu einer Zeit nur 300 m genutzt werden; das Sammelvermögen der Schüssel ist mithin nicht größer als dasjenige von Arecibo, allerdings kann das Teleskop mit einem Gesichtsfeld von bis zu 40° Zenitabstand einen doppelt so breiten Streifen am Himmel erfassen und Objekte doppelt so lange verfolgen.

Abgesehen davon, dass unklar ist, inwieweit das Teleskop in einem autoritären Regime allen Forschern weltweit zur Verfügung stehen wird und es zur Zeit nur Frequenzen bis 3 GHz unterstützt (Arecibo reichte bis 10 GHz hinauf), verfügt es über keinen Radarsender und kann keinesfalls Arecibos Rolle im planetaren Radar übernehmen; zumal es sich auf einem Längengrad genau gegenüber den verbliebenen Radioteleskopen des Planetary Radar in den USA befindet und somit in die entgegengesetzte Richtung schaut und nicht mit ihnen zusammen das gleiche Ziel beobachten kann. FASTs Empfängerplattform ist beweglicher, kann deswegen aber weniger Last tragen und insbesondere keine schwere Senderhardware, wie Arecibo sie einsetzte.

Ein Projekt, das zumindest die passiven Beobachtungsmöglichkeiten von Arecibo voraussichtlich weit übertreffen wird, soll das Square Kilometre Array (SKA) werden, das von einigen europäischen Staaten (Schweiz, UK, Niederlande, Schweden, Italien, Spanien, Portugal), sowie Australien, Neuseeland, Kanada, Südafrika und China in Australien und Südafrika errichtet werden soll. Es wird aus tausenden Antennen diverser Bauformen bestehen, die insgesamt eine Empfangsfläche von einem Quadratkilometer – 14 Mal die nutzbare Fläche von Arecibo oder FAST – aufbringen sollen. Das kombinierte SKA soll mit einem Halbmesser von 3000 km eine um fünf Größenordnungen bessere räumliche Auflösung ermöglichen. Viele der Antennen sollen als Phased-Array zusammengeschaltet werden und gleichzeitig mehrere Ziele am Himmel anpeilen können, wobei sie von ihrem Standort auf 30° südlicher Breite fast den gesamten Himmel bis 60° nördlicher Breite erreichen können. SKA soll initial Frequenzen von 50 MHz bis 14 GHz erfassen und später bis 30 GHz ausgebaut werden. Falls das Teleskop dann wie geplant und bereits mehrfach verschoben (Deutschland ist 2015 aus der Förderung ausgeschieden und nimmt nur noch vertreten durch das Max-Planck-Instituts für Radioastronomie (MPIfR) in Bonn am Projekt teil) 2027 sein erstes Radio-„Licht“ sieht und 2030 fertig gestellt werden wird. Über einen Sender wird es allerdings nicht verfügen.

Die Arecibo-Nachricht dauerte nur 2 Minuten 48, und sie war, obwohl von wissenschaftlichen Größen wie Frank Drake und Carl Sagan erdacht, eigentlich eher als Werbegag anlässlich der feierlichen Wiedereröffnung des Radioteleskops nach einer Umbaumaßnahme gedacht gewesen. Sie ist mittlerweile ziemlich genau 46 Lichtjahre von der Erde entfernt und damit noch in unmittelbarer kosmischer Umgebung der Erde. Sie wird noch 25.000 Jahre Richtung Messier 13 unterwegs sein und sich danach in den Weiten des Raums zwischen den Galaxien bis zur Unkenntlichkeit zerstreuen, wie auch die zahllosen Radarpulse, die das Planetary Radar in alle möglichen Richtungen ausgesendet hat, und die vielleicht irgendwo zu irgendjemandes Wow!-Signal werden. Diese Signale werden das Teleskop und uns alle, vielleicht sogar die ganze Menschheit überdauern und von der Leistung zeugen, deren die Ingenieure in der Mitte des 20. Jahrhunderts fähig waren. Und von unserer unstillbaren Neugier, in Erfahrung zu bringen, was sich dort draußen noch alles verbergen mag.

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(mho)