Neustart der Motor City

Seite 2: Schulterschluss mit digitaler Avantgarde

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Die drei großen Autokonzerne General Motors, Ford und Chrysler können ihrerseits den Schulterschluss mit der digitalen Avantgarde gut gebrauchen, um ihr Dinosaurier-Image loszuwerden. Mit dem EV1 stellte GM zwar schon 1996 ein alltagstaugliches Elektroauto vor, doch trotz zufriedener Kunden zog GM die Wagen wieder ein und verschrottete sie. Die 2006 erschienene Dokumentation "Who Killed the Electric Car?" machte den Fall zu einem PR-Desaster für General Motors. Die zentrale These des Films: Der Konzern habe den EV1 bewusst gegen die Wand gefahren, um sein Kerngeschäft mit Verbrennungsmotoren nicht zu gefährden.

Geholfen hat es jedenfalls wenig. GM musste Traditionsmarken wie Pontiac und Oldsmobile einstellen, weltweit Zehntausende Stellen streichen und 2009 sogar Insolvenz anmelden. Damit verfiel auch Detroit. Doch längst hat sich der Wind auch bei GM gedreht. Anfang 2016 stellte es mit dem Chevrolet Bolt zur Überraschung der ganzen Branche ein Elektroauto vor, dessen Reichweite von rund 500 Kilometern neue Maßstäbe setzt. Damit avancierte GM zum Tesla-Herausforderer Nummer eins. (Das Schwestermodell Opel Ampera-e soll im Frühjahr 2017 auch in Deutschland auf den Markt kommen. Der genaue Preis stand zu Redaktionsschluss noch nicht fest.)

Wie praktisch alle großen Autobauer produziert GM seine Akkuzellen nicht selbst, sondern bezieht sie von einem asiatischen Hersteller – in diesem Fall vom südkoreanischen LG Chem. Auch die fertige Batterie wird in Südkorea hergestellt, allerdings von einem GM-Werk. Doch die geistige Wertschöpfung findet eine halbe Autostunde nördlich von Detroit statt. Dort hat General Motors 2008 für 52 Millionen Dollar ein Batterieforschungszentrum mit 8000 Quadratmetern und 150 Beschäftigten gebaut – das größte seiner Art in den USA, wie General Motors stolz betont. Um etwa die Lebensdauer der Akkus zu ermitteln, werden sie auf mehr als hundert Prüfständen mit Hitze und Kälte traktiert, geladen und durchgerüttelt. Das Labor sei "ein klares Bekenntnis des Unternehmens zur Elektromobilität", schreibt GM in einer Pressemeldung.

Der komplette Wagen wird ebenfalls im Speckgürtel Detroits zusammengebaut. 160 Millionen Dollar hat GM in die E-Auto-Produktion im Werk Orion gesteckt. Dort laufen Bolt und Ampera gemeinsam mit benzingetriebenen Chevrolets vom Band. An der Station, an der sonst der Tank eingebaut wird, kommt stattdessen die Batterie auf einem autonomen Transportwagen herangerollt und wird ins Chassis gehoben. Die Verzahnung von alter und neuer Industrie funktioniert hier offenbar.

Doch reicht das, um Detroit zum "Epizentrum des Mobilitätswandels" zu machen, wie Bill Ford es formuliert? Detroit mag zwar zunehmend interessant für Start-ups werden, doch mit spannenden Verkehrskonzepten hat sich die Stadt bislang kaum hervorgetan. Teststrecken für autonome Autos wurden anderswo in Michigan gebaut, und für ein 50-Millionen-Projekt zur Integration selbstfahrender Autos in eine smarte Stadt bewarb sich Detroit vergeblich.

Und der öffentliche Nahverkehr besteht in erster Linie aus Bussen. Dabei wollte Detroit in dieser Hinsicht schon einmal ganz vorn sein: 1987 baute es sich einen "People Mover" – eine führerlose Hochbahn, die in einer Viertelstunde einmal die Downtown umrundet. Das Netz an Haltestellen ist dicht, die Wartezeit kurz, ein Ticket spottbillig. Trotzdem benutzt kaum jemand die ehemalige Hightech-Bahn – sie hat nämlich keinerlei Anschluss an irgendeine andere Schienenstrecke.

Außerhalb der Downtown steht ein weiteres Mahnmal verfehlter Verkehrspolitik: Ein monumentaler Hauptbahnhof, der seit 1988 außer Betrieb ist und verfällt. Die neue Central Station liegt fünf Kilometer außerhalb der Innenstadt. Immerhin soll ab April eine neue Straßenbahn Downtown und Midtown verbinden. Sie besitzt bisher allerdings nur eine einzige Linie. Und so dürfte es vorerst dabei bleiben, dass die Innenstadt Detroits vor allem aus Parkhäusern und -plätzen zu bestehen scheint. "Wir müssen die Wirtschaft diversifizieren", glaubt der Detroiter Wagniskapitalgeber, Autor und Serien-Entrepreneur Josh Linkner, Gründer der Marketing-Plattform HelloWorld. "Natürlich sollten wir unsere Vergangenheit als blühende Autostadt ausnutzen", sagte er in einem Interview. "Aber wir haben viel darunter gelitten, dass wir so lange eine Ein-Branchen-Stadt waren."

Ob die neuen Start-ups Detroit aus der verhängnisvollen Fixierung auf die Autoindustrie befreien können, ist noch offen. Ted Serbinskis Mantra lautet zwar "Detroit ist das neue Silicon Valley". Doch obwohl sein Accelerator dem Namen nach die gesamte Mobilität ins Auge fasst, befassen sich seine Start-ups vor allem auf die eine oder andere Weise mit dem Auto.

Kein Wunder – die Nähe zu den Autoriesen ist neben den niedrigen Kosten schließlich das Pfund, mit dem Detroit am meisten wuchern kann. Start-ups aus anderen Branchen finden allerdings auch anderswo gute Bedingungen. "Der Detroit-Enthusiasmus hat eine Kehrseite", meint David Kirkpatrick, Gründer des Konferenzveranstalters Techonomy. "Es gibt keine größere Stadt in Amerika, die nicht versucht, junge Denker und Entrepreneure anzulocken. Und das gilt auch für Städte wie Lagos oder Beirut."

(grh)