Nocebo: Wenn die Corona-Impfreaktion nur im Kopf ist

Sowohl der Placebo- als auch der sogenannte Nocebo-Effekt wirken beim Menschen erstaunlich stark. Eine Studie belegt dies nun auch für COVID-19-Vakzinen.

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Soldat wird geimpft

(Bild: US-Kriegsmarine/Sean M. Castellano)

Lesezeit: 6 Min.

Friederike Bender ist Doktorandin am Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität Marburg. Sie hat soeben zusammen mit Kollegen der Harvard Medical School eine spannende Meta-Analyse zum sogenannten Nocebo-Effekt im Zusammenhang mit COVID-19-Impfungen durchgeführt. Dabei handelt es sich um das Gegenteil des bekannten Placebo-Effekts: Durch negative Erwartungen verschlechtert sich ein Krankheitsbild. Im Interview mit MIT Technology Review erläutert sie ihre Forschung.

Technology Review: Frau Bender, warum ist der Nocebo-Effekt im Vergleich zum Placebo-Effekt vielen Menschen unbekannt?

Friederike Bender: Das ist eine sehr gute Frage. Denn es lässt sich annehmen, dass Nocebo-Effekte die Lebensqualität, ein Therapieergebnis und damit verbundene Folgekosten stark beeinträchtigen und damit eine mindestens genauso große Bedeutung haben. Ich nehme an, dass viele Menschen Placebos als die Scheinmedikamente kennen, gegen die neue Präparate in Medikamentenstudien getestet werden und dass diese dadurch vielleicht vielen einfach gängiger sind.

Wie kamen Sie und Ihre Kollegen auf die Idee, Nocebo im Zusammenhang mit Impfreaktionen zu untersuchen?

Friederike L. Bender.

(Bild: Philipps-Universität Marburg)

An der Entstehung von Nocebo-Effekten sind verschiedene Faktoren beteiligt – z. B. kann die Erwartung von Nebenwirkungen über verschiedene Aufmerksamkeitsprozesse zur intensiveren Wahrnehmung eben solcher führen. Diesen Effekt weiter verstärken können beispielsweise eine negative Kosten-Nutzen-Erwartung, das eigene Stresserleben oder die mediale Berichterstattung. Hinsichtlich spürbarer oder erlebbarer Effekte haben Impfungen als solche eine eher negative Kosten-Nutzen-Bilanz: eine Schutz-Wirkung ist nicht wahrnehmbar – wir sind schlicht nicht in der Lage wahrzunehmen, dass wir zu einem gewissen Zeitpunkt geschützt waren und nicht krank wurden.

Impfreaktionen dagegen – also Symptome, die entstehen, wenn unser Immunsystem auf die Impfung reagiert und Antikörper bildet – nehmen wir unter Umständen sehr wohl wahr. Dabei erleben wir Körperreaktionen, die wir sonst häufig als "Nebenwirkungen" im eigentlichen Sinne kennen, wenn wir andere Medikamente eingenommen haben.

Diese Vorüberlegungen und erste Ergebnisse anderer Studien in diesem Bereich veranlassten uns zu der Annahme, dass Nocebo-Effekte eine Rolle im Kontext von Impfungen spielen könnten – vor allem in einer Pandemie, wie wir sie gerade erleben, in der auch weitere Einflussfaktoren sehr präsent sind.

Corona-Pandemie: Neue Varianten - Erkrankung - Impfung

Was waren die zentralen Ergebnisse? Wie stark beeinflusst der Nocebo-Effekt die Impfreaktionen?

In einer Meta-Analyse haben wir die körperlichen Reaktionen in den Placebo-Armen von insgesamt 12 Studien betrachtet. Nach der ersten Impfung berichtete jede bzw. jeder Dritte mindestens eine körperliche Allgemeinreaktion.

Da die Studien bereits abgeschlossen waren, können wir keine Aussage darüber treffen, in wie weit diese körperlichen Reaktionen tatsächlich auf Nocebo-Effekte – also z. B. Erwartungsprozesse – zurückzuführen sind. Ebenso könnten zufällig im Zusammenhang mit der Impfung aufgetretene Körpersymptome auch fälschlicherweise auf diese attribuiert worden sein. Die Gesamtheit dieser Effekte, die nicht auf die pharmakologische Wirkung eines Arzneimittels zurückzuführen ist, bezeichnet man als Nocebo-Reaktionen. Wir können daher sagen, dass 76 Prozent der berichteten körperlichen Allgemeinsymptome (nach einer ersten Impfung) nicht auf die Impfung als solche zurückzuführen sind.

Aufgrund der Veränderung der Körperreaktionen in beiden Gruppen zur zweiten Impfung (in der Placebo-Gruppe etwas geringer; in der Verum-Gruppe deutlich höher) lässt sich annehmen, dass neben der Impfreaktion gegebenenfalls auch Erwartungs- oder Lerneffekte und damit Nocebo-Effekte im engeren Sinne eine Rolle spielen.

Was entgegnen Sie der Kritik, dass so tatsächliche Impfreaktionen verharmlost werden könnten? Nach dem Motto: Alles nur Nocebo?

In Ihrer Frage stecken zwei wichtige Punkte: zum einen die Bedeutung von Impfreaktionen und die von Nocebo-Effekten. Impfreaktionen sind erst mal die gesunde Auseinandersetzung unseres Immunsystems mit dem Impfstoff. Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass diese nicht angenehm sind, aber von ihnen geht keine Bedrohlichkeit aus wie von Impfkomplikationen – also tatsächlichen Nebenwirkungen von Impfungen. Impfreaktionen sind erst mal nur ein Hinweis darauf, dass unser Körper reagiert.

Nocebo-Effekte werden gerne als "eingebildete" Effekte beschrieben. Das mag von außen betrachtet so erscheinen, ist aber faktisch falsch: Nocebo-Effekten liegen psychologische (Schmerz-)Verarbeitungsprozesse zu Grunde, die wir alle haben und die Symptome, die Menschen wahrnehmen, nehmen sie so wahr.

Impfreaktionen sind unangenehme Effekte und können im Rahmen von Impfungen auftreten. Genauso ist ein Muskelkater nach dem Sport unter Umständen äußerst unangenehm. Nocebo-Effekte im Kontext von Impfungen zu untersuchen, soll Impfreaktionen nicht verharmlosen oder bagatellisieren. Vielmehr soll es dabei helfen, diese realistischer einzuschätzen und damit einhergehende Ängste zu reduzieren.

Dabei maßen wir uns nicht an, Aussagen über "Impfkomplikationen" (wie z. B. Sinusvenenthrombosen) zu treffen, denen ausschließlich medizinische Prozesse zugrunde liegen.

Was kann man gegen die negativen Auswirkungen des Nocebo-Effekts tun? Es ist ja kaum hilfreich, den Menschen die möglichen Nebenwirkungen nicht zu erklären.

Nein, das wäre weder ethisch korrekt noch hilfreich. Ted Kaptchuk von der Harvard Medical School, der an unserer Studie beteiligt war, hat sehr deutlich gemacht, dass ein solches Vorgehen das Vertrauen in die Medizin und medizinisches Personal schwächen würde. Unter anderem ist dieses wichtig, um Nocebo-Effekte zu reduzieren.

Es macht also Sinn medizinisches Personal zu Nocebo-Effekten und geeigneten Kommunikationsformen zu schulen. Zum Beispiel kann es hilfreich sein, Informationen in Aufklärungen zu "framen" – also beispielsweise stärker die positive Bedeutung eines Medikamentes oder eines medizinischen Eingriffs zu betonen. Auch hat es sich hilfreich erwiesen, Menschen noch stärker über Nocebo-Effekte aufzuklären.

Sehen Sie aufgrund des Nocebo-Effekts grundsätzlich die Notwendigkeit, gesundheitliche Aufklärung anders zu gestalten? Oder wissen wir einfach noch nicht genug?

Das ist bereits ein breites Forschungsfeld, in dem bereits erste Erkenntnisse gesammelt wurden – beispielsweise zur Gestaltung von Beipackzetteln oder medizinischen Aufklärungen. Hier ist es zukünftig sinnvoll, eine stärkere interdisziplinäre Verzahnung zu fördern und Erkenntnisse aus verschiedenen Bereichen in die Praxis zu bringen.

(bsc)