Omikron-Verwandte: Virus-Varianten im New Yorker Abwasser geben Rätsel auf
Beim Screening des New Yorker Abwassers haben Forschende Varianten entdeckt, deren Ursprung sie sich nicht erklären können. Zwei Theorien dazu.
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(Bild: Jon Flobrant / Unsplash)
Seit Januar 2021 beobachten John Dennehy und sein Team das New Yorker Abwasser. Sie nehmen zweimal pro Monat Proben aus den Zuflüssen sämtlicher 14 Kläranlagen der Stadt und suchen nach Spuren von SARS-CoV-2. Sie wollen das Infektionsgeschehen in der Millionenmetropole im Blick behalten. Das tun inzwischen viele Städte.
Was die New Yorker Analysen von anderen unterscheidet, ist, dass das Team der City University of New York in Queens immer häufiger seltsame und bisher unbekannte Virus-Linien aus dem Wasser fischt. "Kryptisch" nennt Dennehy diese Gensequenzen des Spike-Proteins. "Diese Linien enthalten Mutationen, die in klinischen Proben selten beobachtet wurden und haben viele Mutationen mit der besorgniserregenden Omikron-Variante gemeinsam", schreibt das Team in seinem aktuellen Nature-Paper.
Diese mutierten Strukturen haben die Forschenden auf SARS-CoV-2-Pseudoviren übertragen, um herauszufinden, was sie bewirken. Pseudoviren sind Viren, die so verändert wurden, dass sie keine Krankheit auslösen können, aber die gleichen Bindungseigenschaften haben, wie das infektiöse Virus. Und die im Abwasser gefundenen Sequenzen haben eine unerfreuliche Eigenschaft: Sie erweitern die Fähigkeit der Pseudoviren, Artgrenzen zu überschreiten. In den Laboren in Queens konnten diese Modellviren sowohl menschliche Zellen als auch Maus- und Rattengewebe infizieren. Zudem waren sie gegen verschiedene Klassen monoklonaler Antikörper resistent, die die Viren normalerweise abfangen können.
Mutationen noch nicht in Patienten gefunden
Die Frage ist nun: Woher kommen diese Mutationen und sind sie wichtig fĂĽr die weitere Entwicklung der Pandemie?
Eigenartig an diesen Mutationen ist vor allem, dass sie in der Zusammensetzung, in der sie im Abwasser schwimmen, noch nicht in Patienten gefunden wurden. Sie sind in keiner der Datenbanken verzeichnet, in denen die Testergebnisse von COVID-19-Infizierten gesammelt werden. Da SARS-CoV-2 jedoch vor allem – so zumindest bislang die Theorie – über menschliche Exkremente ins Abwasser gelangen, hätte im Verlauf des letzten Jahres irgendwo jemand entdeckt worden sein müssen, der an dieser Variante erkrankt ist. Und offenbar ist es diesen Varianten bisher auch nicht gelungen, Delta – oder jetzt Omikron – etwas entgegenzusetzen.
Damit könnte man diese New Yorker Mutationen zu den Akten legen, hätten die Forschenden mit den Pseudovirus-Experimenten nicht die Beobachtung gemacht, dass diese Mutationen die Barriere zwischen den Artgrenzen aufheben.
Zum Ursprung der kryptischen Linien kursieren zwei Meinungen. Die eine Gruppe vermutet, dass das Virus doch von Menschen ausgeschieden wurde, deren Infektion nicht durch eine Virus-Sequenzierung erfasst wurde. Die Mutationen sind besonders in einigen Stadteilen aufgetaucht – die die Forschenden jedoch nicht benennen. Da das New Yorker Leben über den Zeitraum der Probennahmen kaum eingeschränkt war, vermutet Dennehy, dass die Quelle der Mutationen beispielsweise eine Pflegeeinrichtung ist, in der die Menschen nicht mobil sind und möglicherweise ein geschwächtes Immunsystem haben.
In Menschen mit schwachem Immunsystem kann sich das Virus besonders lange aufhalten und so innerhalb seines Wirtes mutieren – das ist auch eine der Theorien zur Entstehung der Omikron-Variante. Und die Ähnlichkeiten zwischen den New Yorker Mutationen und Omikron sind auffällig. Auf Dennehys Anfragen an Ärzte und Krankenhäuser in diesen Bereichen der Stadt hat er allerdings keine Antworten erhalten – seine Theorie ist damit in einer Sackgasse gelandet.
Auch Ratten hinterlassen ihre Exkremente im Abwasser
Die andere Gruppe hält Ratten für die Quelle der Mutationen. Die gigantische Kanalisation von New York wurde vom "New Yorker" schon als Stadt unter der Stadt bezeichnet und ist von Millionen Ratten besiedelt, die ihre Exkremente ebenfalls im Abwasser hinterlassen. Für die Ratten-Hypothese spricht, dass der Anteil der auffälligen Mutationen gerade in der Zeit deutlich anstieg, als sich die Corona-Welle in New York an einem Tiefpunkt befand: zwischen Mai und Juni 2021. Gemeinsam mit dem Animal and Plant Health Inspection Service des US-Landwirtschaftsministeriums suchen sie nun nach infizierten Ratten, um diese Hypothese zu untermauern – bislang erfolglos. Derzeit gibt es keine Belege dafür, dass das Virus sich in Ratten ausbreitet und da Übertragungen von Menschen auf Haus-, Zoo-, Nutz- und Wildtiere inzwischen belegt sind, wenn sie engen Kontakt mit ihnen haben, können auch andere Wirte nicht ausgeschlossen werden.
Das Rätsel wartet also weiterhin auf Lösung. Inzwischen suchen die New Yorker Wissenschaftler auch in anderen US-Bundesstaaten nach diesen kryptischen Linien, um ihrer Herkunft – und damit möglichen neuen Entwicklungen in der Pandemie – auf die Spur zu kommen. Denn auch die Quelle der hochansteckenden und nur mäßig zu unseren Impfstoffen und Antikörpern passende Omikron-Variante ist immer noch nicht bekannt. Und wo sie herkam, können auch weitere Varianten entstehen.
(jsc)