Post aus Japan: Kompetenter Kompakter

Die zweite Generation des ersten in Großserie produzierten Elektroautos soll endlich die Mittelklasse elektrisieren. Doch kann der Nissan Leaf schaffen, was sich eigentlich Tesla vorgenommen hatte?

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Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Martin Kölling
Inhaltsverzeichnis

Hier steht sie vor mir in Nissans Hauptquartier in Yokohama, die zweite Generation des ersten in Großserie hergestellten E-Mobils: ein oranger Nissan Leaf. Er soll nun schaffen, was seinem Vorgänger nicht vergönnt war: den Durchbruch elektrischer Mobilität im Massenmarkt zu bringen.

Und nebenbei soll er einen einen Vorgeschmack aufs autonome Fahren liefern. Kam der erste, 2010 gestartete Leaf mit seiner wülstigen Form noch extrem hecklastig daher, sieht der neue Leaf so aus wie er sich fährt: zwar nicht revolutionär, aber schnittig wie ein kompetenter Kompakter. Nur hat er ein Problem: Vielleicht hätte er mit seinen neuen Qualitäten vor wenigen Jahren damit noch Jubelstürme unter Elektroautos-Fans ausgelöst. Doch wer heute Elektroautos produziert oder über sie schreibt, kommt an Tesla nicht vorbei.

Post aus Japan

Japan probiert mit Elektronik seit jeher alles Mögliche aus - und oft auch das Unmögliche. Jeden Donnerstag berichtet unser Autor Martin Kölling an dieser Stelle über die neuesten Trends aus Japan und den Nachbarstaaten.

Elon Musk, der Chef der kalifornischen Kultmarke, will die Automobilwelt revolutionieren. Und eine riesige Fanbasis jubelt jeden seiner neuen Versuche zu epochalen Ereignissen hoch. Nun soll sein neues Model 3 Tesla aus verlustreicher elektrischer Mobilität zum Kassenschlager beschleunigen. Und wieder überschlagen sich Musks Jünger mit Adjektiven wie visionär, revolutionär, fantastisch.

Der GM Chevy Bolt musste sich daher die Frage stellen lassen, ob er der Tesla-Killer sei. Und genauso geht es nun dem Nissan Leaf. Doch dieser Vergleich ist nicht nur unfair und müßig: Tesla greift mit dem Versprechen von Sportlichkeit eher BMW an, GM und Nissan wenden sich eher an die Massen. Doch wichtiger noch: Die Elektroautos der traditionellen Hersteller gibt es schon, während das Model 3 wegen Produktionsproblemen noch nicht den Weg in die Läden gefunden hat.

Überdies geht die Frage am Kern des Problems vorbei. Der größte Konkurrent der Elektroautos der etablierten Hersteller ist nicht Tesla, sondern vor allem eine Myriade an Mittelklassemodellen mit Hybrid- oder Verbrennungsmotor, die ebenfalls um die Kundenkunst buhlen. Denn im Massenmarkt zählen nicht Zukunftsmusik und Vision allein, sondern vor allem bodenständige Werte und Preis-Nutzen-Verhältnis.

Dass es nicht immer hilft, der erste zu sein, musste auch Nissan bei seiner ersten Leaf-Generation feststellen. Das Modell verkaufte sich seit seiner Markteinführung 2010 zwar rund 300 000 Mal. Aber damit lag Nissans Hoffnungsträger weit hinter den Erwartungen von Konzernchef Carlos Ghosn zurück. Nun kann der Chef der Renault-Nissan-Allianz in Japan schon mal testen, ob die mit dem neuen Leaf endlich aufgeht. Denn dort steht der Stromer schon in den Läden.

Zuerst fiel mir die Stille auf, sobald ich mit einem Druck auf den Anlasser das Auto bootete. Kein Verbrennungsmotor generierte da rumorend im Leerlauf sinnlos Kraft. Stattdessen erklang ein Jingle, während der Tacho aufleuchtete und sich auf dem Display in der Mittelkonsole gemächlich das Infotainmentsystem samt Navigation lud.

Die Stille sollte nicht überraschen. Der Leaf ist halt ein Elektroauto mit einer großen Batterie, aus der die Bordelektronik Strom zapfen kann. Immerhin 40-kWh-Batterie hat das derzeitige Modell, 2018 folgt eine Variante mit 60 kWh. Schon eher erstaunt die Kilometerangabe im Display.

Rund 400 Kilometer soll der Leaf nach dem japanischen Teststandard schaffen, genug um die Reichweitenangst zu beheben, behaupten Nissans Ingenieure. Doch das Auto gibt sich realistischer. 285 Kilometer Reichweite zeigte das Display an. Und das war, bevor ich aufs Gaspedal trat.

Zwar fuhr ich oft auch im Öko-Bereich, um alle Fahrgefühle zu erleben. Doch natürlich überprüfte ich auch das oft gerühmte Beschleunigungsverhalten von Elektroautos. Und so erschöpfte meine erste 67 Kilometer lange Stadtetappe von Nissans Hauptquartier in Yokohama bis zu meinem Zuhause in Tokios Nordostecke den Akku um 31 Prozent. Dabei hatte ich die Klimaanlage noch nicht einmal eingeschaltet.

Hochgerechnet sind daher in meinem Fall 200 Kilometer Reichweite wohl realistischer. Und das ist nicht genug, um für mich praktisch zu sein. Denn erstens gibt es weder in meinem Wohnblock, noch in der Nähe eine Ladestation. Und die nächsten ist laut Navigationssystem liegt laut Navigationssystem 2,5 Kilometer entfernt. Zweitens fahre ich hin und wieder längere Stecken am Stück. Damit ist diese Version noch keine Alternative für mich. Aber anderen Kunden mag es reichen. Die Ansprüche – und wohl auch das Fahrverhalten – sind schließlich verschieden.

Sicherlich habe ich die Durchzugskraft des Motors stärker ausgenutzt als vorsichtige Mittelklassefahrer es vielleicht tun würden. Aber vielleicht würden auch die auf den Geschmack kommen. Immerhin wirbt Nissan mit dem Fahrspaß von Elektroautos – und dies zu recht. Der Elektromotor des Leaf wurde von schlappen 80 kW/109 PS auf 110 kW/150 PS aufgebohrt, das Drehmoment von bisher 254 Nm auf nun 320 Nm gesteigert.

Zwar braucht der neue Leaf derzeit mit rund neun Sekunden deutlich länger als Teslas Model 3, um von 0 auf 100 km/h zu beschleunigen. Aber da das Drehmoment von Beginn an zur Verfügung steht, haben an der Ampel selbst Motorradfahrer nach einem beherzten Tritt aufs Gaspedal das Nachsehen. Der Rest des Verkehrs sowieso. Der müht sich noch aus den Startlöchern, während der Leaf-Fahrer schon bald nach der Kreuzung für den nächsten innerstädtischen Stau bremsen muss.

Eine andere Funktion erhöht die gefühlte Dynamik noch: das e-Pedal, das Fahren mit einem Pedal erlaubt. Ist diese Funktion aktiviert, greift die Motorbremse sofort fest zu, sobald der Fuß vom Pedal genommen wird. Sie verlangsamt das Auto sogar bis zum Stopp. So soll mehr Bremsenergie zurückgewonnen werden.

Auch am Berg ist das e-Pedal hilfreich. Selbst an recht steilen Steigungen hält es den Wagen auf dem Fleck, ohne dass ich die Bremse treten müsste. Anfahren am Berg wird damit zum Kinderspiel. Doch nach einer Weile vermisste ich, das Auto selbst bremsen zu können, besonders bei Kurvenfahrten. Denn die machen im Leaf Spaß. Schließlich sorgt der Akku im Unterboden für einen tiefen Schwerpunkt und damit recht geringes Schwanken für so ein hohes Autos. Mit meinen 1,80 Meter Stehhöhe konnte ich bequem mit Hut im Auto sitzen, so viel Luft war noch über dem Scheitel.

Doch noch andere Aspekte bestimmen das Fahrerlebnis mit. Die Inneneinrichtung zum Beispiel: Anders als Teslas Model 3, das ohne Armaturenbrett, aber dafür einem 15-Zoll-Monitor ausgeliefert wird, kommt der Leaf traditioneller mit digitalem Tacho und mittelgroßem Display in der Mittelkonsole daher.

Auch die Inneneinrichtung fühlt sich so an wie ich sie bei einem (in Japan) rund 30 000 Euro teuren Kompaktwagen der Mittelklasse erwarten würde. Die Sitze sind genau wie die Teile der Türverkleidung aus Textil, allerdings optisch mit blauen Nähten verziert. Auf der Rückbank ist für zwei Personen genug Platz. Für drei wird es allerdings eng, schon weil ein dicker Tunnel den Fußraum in zwei Teile trennt. Aber dafür lassen sich im Winter auch die Rücksitze beheizen. Der Kofferraum wiederum ist ok für ein Auto dieser Größe. Mich stört allerdings die hohe Ladekante.

ProPilot und Fazit Ein anderer Aspekt ist der Fahrassistent ProPilot, mit dem Nissan die Mittelklasse aggressiv teilautonomisiert. Nach einem Druck auf einen blauen Knopf am Lenkrad übernimmt das System im Stadtverkehr das Bremsen und Beschleunigen und auf der Autobahn sogar das Steuern in einer Spur.

Demnächst soll der automatische Spurwechsel folgen, 2020 das eigenständige Überqueren innerstädtischer Kreuzungen – und dies demokratisch in der Mittelklasse und nicht allein den gehobenen Preisklassen.

Der Haken: Noch ist das Auto nicht wirklich autonom. Aus rechtlichen Gründen muss der Fahrer immer mindestens eine Hand am Steuer haben, um jederzeit die Kontrolle des Autos übernehmen zu können. Und das ist auch gut so wie mein persönlicher Härtetest für autonomes Fahren zeigt: eine Etappe auf der Tokioter Stadtautobahn, einem wahren Highway.

Aus Platznot windet sich die Autobahn wie eine Achterbahn entweder in 20 bis 30 Meter Höhe durch die Stadt oder in Tunneln durch den Untergrund. Die Einfahrten münden von rechts und von links ein, plötzlich stehen Brückenpfeiler auf der Straße. Und immer wieder fordern enge 90-Grad- und S-Kurven das fahrerische Können heraus.

Ich habe noch keinen mit dem entsprechenden Fahrhelfer ausgestatteten Mittelklassewagen von Honda oder Nissan gefahren, der selbst die schärfsten Kurven dieses Parcours mit der in Japan üblichen Flussgeschwindigkeit (Tempolimit 60 km/h plus 20 km/h) mit 100-prozentiger Sicherheit alleine meistern konnte. Auch der Leaf ist da keine Ausnahme.

Bei der Einfahrt auf die Autobahn ließ sich das Abenteuer noch gut an. Nach einigen hundert Metern signalisierte mir das Auto mit einem Ton und dem Aufleuchten eines grünen Lenkrads im Display, dass es nun bereit war, das Lenkrad zu übernehmen. Inklusive Abstand halten und Beschleunigung auf die von mir vorgegebene Spitzengeschwindigkeit funktionierte dies auch einwandfrei – bis zur ersten scharfen Kurve.

Schon kurz vor dem Scheitelpunkt begann das Lenkrad zu vibrieren, um mir zu signalisieren, dass die Lenkkräfte nicht mehr gegen die Fliehkräfte siegen würden. Und so griff ich ein. Ein anderes Mal wollte der ProPilot unbedingt eine Ausfahrt nehmen, bei der die gestrichelte Seitenlinie wegradiert war.

Und in einer abschüssigen S-Kurve mit begrenzter Fernsicht eierte das Fahrzeug ein bisschen nahe zwischen den Begrenzungslinien anstatt sich hübsch in der Mitte zu halten, wohl weil es den Fahrbahnverlauf nicht weit genug voraussehen konnte, sondern nur auf Nahsicht fuhr. Dies dürfte sich ändern, wenn ab 2018 hochpräzise dreidimensionale Straßenkarten und zentimetergenaue Satellitennavigation in Japan eingeführt werden.

Aber auf einer normalen Autobahnfahrt außerhalb der Stadt würde ich dem System durchaus die Arbeit überlassen. Denn bei einem Tempolimit von 100 km/h oder im zähflüssigen Feierabendverkehr ist Fahren weniger Vergnügen als eine Geduldsprobe.

Ein weiterer Helfer ist der Parkautomat. Man wähle einen Parkplatz, halte den Parkknopf gedrückt und rangiert sich der Wagen selbst in die Lücke. Doch ehrlich gesagt würde ich dieses Angebot wohl nicht oft nutzen. Denn die 360-Grad-Rund-um-Vogelperspektive im Navi-Display erleichtert selbst das Einparken in engen Lücken ungemein.

Nur ein digitalisiertes Instrument hat mich dauerhaft bei meiner Ausstattungsvariante irritiert: das Rückspiegeldisplay, oder genauer gesagt ein Doppelbild. Das breite Display stellte zwar den rückwärtigen Verkehr zuverlässig dar. Nur störte mich die analoge Widerspiegelung des Verkehrsgeschehens auf dem Videobild ebenso zuverlässig. Ich glaube zwar nicht, dass es sicherheitsrelevant wäre. Aber nach dieser Erfahrung würde ich lieber in einen normalen Spiegel schauen, solange Displays nicht besser entspiegelt sind.

Ich halte den Leaf nicht für einen Revolutionär, aber einen kompetenten Kompakten mit einem Schuss elektrischem Fahrspaß. Mit einem Plus an Reichweite, Vorwärtsdrang und vor allem seinem schnittigen Design dürfte er mehr Kunden anlocken als sein Vorgänger. Aber an den ganz großen Durchbruch vermag ich nicht noch nicht zu glauben.

Die Variante mit der 60-kWh-Batterie dürfte ihn zwar für noch mehr Kunden interessant machen, nur wird der ausdauerndere Leaf auch mehr kosten. Ich denke, dass daher selbst im technikverliebten Japan die Kunden Autos mit Verbrennungsmotoren vorerst noch nicht das Benzin abdrehen werden.

Neuer Nissan Leaf (9 Bilder)

(Bild: Martin Kölling)

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