Was die Null-Covid-Proteste in China bewirken sollen

Seite 2: China: Für viele sind Proteste im echten Leben Neuland

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Chen, eine weitere Einwohnerin Shanghais, nahm am Sonntagnachmittag an der zweiten Demonstration am selben Ort teil und hörte Ähnliches wie Zhang. Sie sagte, dass sich zwar die Forderungen nach einer Lockerung des COVID-Kontrollsystems und nach mehr Freiheit wiederholten, aber es auch Gesänge und Sprüche gab, in denen Xi oder die Kommunistische Partei ausdrücklich erwähnt wurden. Diese seien aber deutlich weniger laut gewesen.

Chen glaubt auch, dass die Menschen das Recht haben, zu sagen, was sie wollen, aber sie befürchtet, dass dies die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von dem ablenken könnte, was sie als Kernbotschaft ansieht: "Es ist unnötig, von Anfang an zu radikale politische Slogans zu brüllen. Das ist zu radikal."

Die Menschen, die protestieren, sind eindeutig keine monolithische Bewegung. Und fairerweise muss man sagen, dass viele von ihnen zum ersten Mal im echten Leben an einem Protest teilnehmen; sie lernen gerade erst, wie das funktioniert. Sie sind aus ihren Häusern gekommen, weil sie sich durch die verschärften Corona-Maßnahmen aufrichtig beunruhigt fühlen. Selbst nachdem die chinesische Regierung Anfang November eine Lockerung der Beschränkungen angekündigt hatte, hat sich die Realität vor Ort nicht wirklich geändert. In einigen Städten haben die lokalen Regierungsbeamten die Kontrollen noch einmal verschärft. Wenn die Menschen auf die Straße gehen, denken sie vielleicht an die Dinge, die ihrem Leben am nächsten stehen – und nicht daran, was das auf einer höheren politischen Ebene bedeutet.

Es ist verständlich, dass die seltene direkte Kritik an Chinas oberster Führung im Ausland mehr Aufsehen erregt und es daher in die Schlagzeilen der Zeitungen schafft. Aber die Berichterstattung hat auch die Sorge geweckt, dass diese organische, im Land selbst entstandene Bewegung als ausländische Einmischung dargestellt wird. In der Tat ist das bereits der Fall. Einige regierungsfreundliche chinesische Meinungsmacher haben die Anti-Xi-Slogans bereits hervorgehoben, um zu behaupten, dass ausländische Akteure eine "Farbenrevolution" (wie die orangene Revolution in der Ukraine gerne verunglimpft wird) voranzutreiben.

Allerdings argumentieren einige der Protestierenden, dass die Legitimität der Demonstrationen unabhängig davon, ob die Slogans radikal waren oder nicht, angezweifelt werden könnte. Denn die Verleumdung von Demonstranten als ausländische Akteure ist ein alter Trick der chinesischen Informationskontrolle.

Es ist unklar, wie lange die Proteste andauern werden, aber es ist viel schwieriger geworden, sie zu organisieren und an ihnen teilzunehmen, seit die chinesische Polizei stärker auf die Ereignisse reagiert und ihre Unterdrückungsmaßnahmen verstärkt hat.

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Zhang hat zwar Freunde, die sich Sorgen machen, dass die Demonstranten zu mehr Radikalität gedrängt werden, aber das macht ihn nicht nervös. Er sagte, dass er es für völlig in Ordnung hält, dass die Menschen eigene Gedanken und Gefühlen haben. "Wenn man nicht einverstanden ist, kann man es einfach nicht sagen", so Zhang. "Und bei Protesten wird es immer Slogans geben, die zu radikal sind. Entweder man entscheidet sich für friedliche Demonstrationen und sagt gar nichts, oder man äußert sich, ohne Angst zu haben."

Was ihn beunruhigt, ist die Tatsache, dass Chinas gut funktionierendes staatliches Überwachungssystem leicht gegen diese Demonstranten eingesetzt werden kann – ein wichtiger Teil der Risikokalkulation für jeden, der an Protesten teilgenommen hat und immer noch teilnehmen will. Zhang hat in den sozialen Medien gelesen, dass Demonstranten in Peking vermuten, dass ihre Gesundheitsdaten gegen sie verwendet werden, um festzustellen, wer an Demos teilgenommen hat. Es gibt auch Berichte, dass die Polizei in Shanghai die Telefone der Menschen kontrolliert, was Chen sehr beunruhigte und dazu veranlasste, am Montag einen anderen Weg zur Arbeit zu nehmen, um die Polizeipräsenz zu umgehen.

Chen sagte, sie mache sich nun Sorgen, wieder zu einer Demonstration zu gehen und am Ende allein dazustehen und Opfer der Polizei zu werden. Aber sie würde hingehen, wenn genügend Leute kämen; die Erfahrungen der letzten Tage hat sie gelehrt, dass Proteste wirklich wichtig sind.

Als Peng Lifa im Oktober seinen Ein-Personen-Protest inszenierte, dachte Chen, man würde ihn übersehen. Doch als sie sah, wie viele Menschen in verschiedenen Städten dieselben Worte skandierten, die Peng geschrieben hatte, war sie davon überzeugt, dass Proteste, und seien sie noch so klein, im heutigen China eine wichtige Botschaft vermitteln können. "Diese Kämpfe führen zu Ergebnissen, die etwas bedeuten", sagt sie. "Diese sind vielleicht nicht am nächsten Tag sichtbar, aber sie werden sichtbar werden."

(jle)