Zensur in China: Roman wird im Netz noch vor Veröffentlichung gesperrt

Das online gespeicherte Dokument einer chinesischen Autorin wird vom Plattform-Anbieter gesperrt. Nutzer fragen sich, wie weit die Zensur des Staates reicht.

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Chinesische Flagge
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Zeyi Yang
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Mal angenommen, ein Autor sitzt an seinem Computer zu Hause und schreibt an seinem Roman. Er ist fast fertig, bereits knapp eine Million Wörter sind geschrieben. Plötzlich – wie aus dem Nichts – erhält der Autor von seinem Schreibprogramm eine Meldung, dass sich das Dokument mit dem Roman nicht wieder öffnen lässt, da es illegale Informationen enthält. Augenblicklich sind all die geschriebenen Wörter einfach weg.

Genau das geschah im Juni einer chinesischen Roman-Autorin, die unter dem Pseudonym Mitu veröffentlicht. Sie schrieb ihre Text in WPS, einer chinesischen Version von Cloud-basierten Programmen wie Google Docs oder Microsoft Office 365. In einem chinesischen Literatur-Forum namens Lkong beschuldigte Mitu am 25. Juni WPS, zu "spionieren und meine Dokumente zu sperren", da sie illegale Inhalte enthielten.

Diese Beschwerde Mitus ging viral, als sie verspätet einige bekanntere Influencer am 11. Juli weiter verbreiteten. Die Geschichte wurde noch am selben Tag ein Topthema auf dem Kurznachrichtendienst Weibo. Nutzer fragten sich, ob WPS auch ihre Privatsphäre verletzte. Seitdem, so berichtet es das chinesische Magazin The Economic Observer, habe es weitere Fälle gegeben, in denen Dokumenten von Autoren von Online-Romanen aus unklaren Gründen in der Vergangenheit gesperrt wurden.

Mitus Verdacht trat eine Diskussion in den sozialen Medien Chinas los über Zensur und die Verantwortung von Plattformbetreibern. Damit rückte auch das Spannungsverhältnis zwischen dem zunehmenden Bewusstsein chinesischer Nutzer für ihre Privatsphäre und der Verpflichtung von Tech-Firmen, im Namen der Regierung zu zensieren, in den Fokus. "Dies ist ein Fall, in dem wir vielleicht sehen, dass diese beiden Dinge tatsächlich kollidieren könnten", sagt Tom Nunlist, ein Analyst für Chinas Cyber- und Datenpolitik bei der in Peking ansässigen Forschungsgruppe Trivium China.

Mitus Dokument ist inzwischen zwar online gespeichert und wurde bereits 2021 an einen Redakteur weitergegeben, aber sie sagt, sie sei die einzige Person gewesen, die es in diesem Jahr bearbeitet hat, als es plötzlich gesperrt wurde. "Der Inhalt ist sauber und kann sogar auf einer [Literatur-]Website veröffentlicht werden, aber WPS beschloss, dass er gesperrt werden sollte. Wer hat der Firma das Recht gegeben, in die privaten Dokumente der Nutzer zu schauen und willkürlich zu entscheiden, was damit zu tun ist", schrieb sie.

WPS wurde erstmals 1989 von der chinesischen Softwarefirma Kingsoft veröffentlicht und hat nach eigenen Angaben 310 Millionen monatliche Nutzer. Es hat teilweise von staatlichen Zuschüssen und Verträgen profitiert, da die chinesische Regierung aus Sicherheitsgründen ihre eigenen Firmen gegenüber ausländischen Konkurrenten stärken wollte.

Das Unternehmen hat seit der ersten Beschwerde zwei Erklärungen veröffentlicht. Darin stellt es klar, dass die Software lokal gespeicherte Dateien nicht zensiert. Nur vage bleibt es aber dabei, was es mit online geteilten Dateien macht. "Alle Plattformen, die Online-Informationsdienste anbieten, sind für die Überprüfung der Inhalte verantwortlich, die auf ihren Plattformen verbreitet werden", heißt es in einer Erklärung vom 13. Juli, die sich auf das chinesische Cybersicherheitsgesetz und andere einschlägige Vorschriften beruft. Kingsoft reagierte nicht auf die Anfrage von MIT Technology Review nach einem Kommentar.

In den Kommentaren zu der jüngsten Erklärung von WPS auf Weibo verlangen die Nutzer Antworten. "Können Sie garantieren, dass Sie unsere Dokumente nicht einsehen werden? Wenn Sie das können, werde ich es weiter nutzen; wenn nicht, werde ich um eine Rückerstattung meiner Mitgliedschaft bitten. Ich habe sie um mehrere Jahre verlängert, aber jetzt habe ich Angst", schrieb ein Nutzer.

WPS hat nicht offiziell bestätigt, ob die algorithmische Zensur durch den Akt des Teilens der Arbeit ausgelöst wird. Ein Kommentar, den der WPS-Kundendienst am 13. Juli auf Weibo hinterließ, scheint diese Annahme jedoch zu bestätigen: "Das Synchronisieren und Speichern in der Cloud löst die Überprüfungen nicht aus. Nur das Erstellen eines Freigabelinks für das Dokument löst den Überprüfungsmechanismus aus." Selbst für chinesische Internetnutzer, die an strenge Zensurgesetze gewöhnt sind, scheint dies ein Schritt zu weit zu sein.

Mehr über China

Mit der zunehmenden Verbreitung von Plattformen zur gemeinsamen Nutzung von Dokumenten in China ist die Zensur nicht unbekannt. Aber sie erfolgt in der Regel erst, nachdem ein Dokument weithin geteilt und angesehen wurde. So lud beispielsweise der chinesische Künstler Jianguo Xiongdi im Jahr 2020 die Öffentlichkeit dazu ein, zu einem Dokument beizutragen, in dem alle Wörter aufgelistet waren, die in China als sensibel gelten. Es dauerte fast 10 Stunden, bis die Dokument-Sharing-Plattform Shimo den Beitrag bemerkte und zensierte. Bis zu diesem Monat glaubten die meisten chinesischen Nutzer, dass ihre eigenen Dateien, die nur im Freundes- und Familienkreis zirkulierten, nicht die gleiche Aufmerksamkeit und Überwachung erfahren würden, solange sie mehr oder weniger im Verborgenen blieben.

Die Nutzer mögen nicht glücklich darüber sein, aber die Praxis von WPS, alle Nutzerdokumente zu überprüfen (falls das überhaupt geschieht), ist laut Nunlist wahrscheinlich durch Chinas Cybersicherheitsgesetz erlaubt. Alle Internetdienstleister sind verpflichtet, Inhalte auf ihren Plattformen zu löschen oder zu sperren, wenn sie Informationen entdecken, deren Veröffentlichung oder Übertragung durch das Gesetz oder Verwaltungsvorschriften verboten ist", heißt es in Artikel 47 des Gesetzes.

In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung ihre Informationskontrolle verschärft und gleichzeitig den Missbrauch personenbezogener Daten durch Technologieunternehmen eingeschränkt, was vor allem durch das wegweisende Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten deutlich wird. Die WPS-Kontroverse zeigt jedoch, dass es zwischen diesen beiden politischen Zielen eine inhärente Spannung gibt. Zumindest einige chinesische Nutzer haben das auch erkannt. Unter dem ersten viralen Beitrag über die WPS-Nachrichten lautet der meistgelesene Kommentar: "Das ist eindeutig kein Problem von Kingsoft, aber niemand wagt es, den Verantwortlichen ins Visier zu nehmen."

(jle)