Quantenradieren wider den Zeitstrom (Teil 1): UnergrĂĽndliche Wege der Photonen

Kann der "Delayed Choice Quantum Eraser" in der Quantenwelt rückwirkend Entscheidungen ändern? Ein Blick auf den Welle-Teilchen-Dualismus hilft beim Verständnis

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Laser in einem Physiklabor

(Bild: luchschenF/Shutterstock.com)

Lesezeit: 25 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Wenn Sie einmal eine schwierige Wahl zwischen zwei Alternativen treffen mussten und sich unglücklicherweise für diejenige entschieden haben, die sich im Nachhinein als unvorteilhafter erwies, haben Sie sich sicherlich gewünscht, die Zeit einfach zurückdrehen zu können. So hätten Sie die Entscheidung revidieren können. Im Alltag ist das leider nicht möglich. Aber in der Welt des Allerkleinsten, der Quanten, gibt es einen Effekt, von dem manche behaupten, er würde es nachträglich erlauben, eine Entscheidung über den Ausgang eines Ereignisses zu treffen, das bereits in der Vergangenheit liegt. An Wissenschaft Interessierte werden vermutlich schon einmal vom "Delayed Choice Quantum Eraser" gehört haben, zu Deutsch auch unter dem Namen "Quantenradierer mit verzögerter Auswahl" bekannt, dem "Retrokausalität" nachgesagt wird, also eine zeitliche Umkehr von Ursache und Wirkung. Wir fühlen dem Experiment auf den Zahn und hinterfragen, ob hier tatsächlich der Zeitablauf umgekehrt wird. Beim Verständnis hilft eine oft übersehene Interpretation von Lichtwellen.

"Missing Link"

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

"Jeder der von der Quantentheorie nicht schockiert ist, hat sie nicht verstanden." Dieser Satz wird Niels Bohr zugeschrieben, und wer sich näher mit Quantenphysik beschäftigt, wird ihm wahrscheinlich beipflichten. Die Welt des Mikrokosmos gehorcht zum Teil absurd erscheinenden Gesetzen, die unserer Erfahrung in der makroskopischen Welt gänzlich fremd sind. Quantenobjekte wie Elektronen oder Protonen können beispielsweise durch Wände hindurch "tunneln", sich gleichzeitig in zwei entgegengesetzte Richtungen drehen oder sich an mehreren Orten gleichzeitig aufhalten. Man kann mit großer Genauigkeit messen, wo sie sich befinden, oder wie schnell sie unterwegs sind, aber nicht beides gleichzeitig. Man kann nicht mit noch so großem Energieaufwand die Quarks in einem Proton oder Neutron einzeln herauslösen, weil aus der aufgewendeten Energie neue Quarks entstehen, die dann wieder Kombinationen aus zwei oder drei Quarks formen. Der größte Teil der Masse von Proton und Neutron steckt gar nicht in den Quarks, sondern im Vakuum zwischen ihnen – und so weiter und so fort.

Eines der oben genannten Beispiele für das seltsame Verhalten der Quanten ist die Heisenbergsche Unschärferelation, die besagt, dass sich zwar verschiedene Zustände eines Quantenteilchens mit großer Genauigkeit messen lassen, aber nicht jede beliebige Kombination davon. Sie können etwa ihren Ort oder ihre Geschwindigkeit (oder besser gesagt ihren Impuls, das Produkt aus Masse und Geschwindigkeit) messen, aber nicht beides gleichzeitig. Das liegt jedoch nicht am Unvermögen unserer Messmethoden, sondern in der Natur der Quanten selbst begründet.

Ein Beispiel für diesen Effekt ist die Beugung von Licht an einem schmalen Spalt: Man beleuchtet mit einem Laserstrahl einen schmalen Spalt, Bruchteile eines Millimeters durchmessend. Auch die stets lichtschnellen und ruhemasselosen Photonen haben einen Impuls, der sich sehr genau messen lässt: Sein Betrag ist p=h/λ, wobei λ (griechisches kleines Lambda) für die Wellenlänge steht, die bei einem Laserstrahl äußerst scharf bestimmt ist. h ist eine Naturkonstante, das Plancksche Wirkungsquantum. Der Impuls ist (wie die Geschwindigkeit) ein Vektor, das heißt, er hat eine Richtung. Die Richtung des Impulsvektors entspricht der Ausbreitungsrichtung des Lichts, also der Richtung vom Laser zum Spalt.

Die Beugung von Licht am Einzelspalt kann durch die Heisenbergsche Unschärferelation erklärt werden. Je stärker man den Lichtweg einengt, desto breiter erscheint das Beugungsbild des Spalts auf einem dahinterliegenden Schirm, da die Richtung des Impulses der Photonen umso unschärfer wird, je schärfer man ihren Ort durch die Spaltbreite bestimmt.

(Bild: Single_Slit_Diffraction: Wikimedia Commons, DL6ER, CC-BY-SA-4.0)

Durch die Einengung des Photonenwegs des Laserstrahls mittels eines Spalts erfolgt eine eindimensionale Ortsmessung der Photonen. Beim Durchsenden der Photonen durch den Spalt lässt sich mit einer Auflösung, die der Breite des Spalts entspricht, feststellen, wo sich das Photon auf einer gedachten Linie quer zum Spalt befunden hat. Der Ort der Photonen in dieser Dimension wird stark eingeschränkt, während die Position entlang der Länge des Spalts deutlich weniger beschränkt bleibt. Die Photonen quittieren das damit, dass sie hinter dem Spalt Haken schlagen, wobei sie in zufälligen Winkeln von ihrer ursprünglichen Bewegungsrichtung abweichen und sich quer zum Spalt (aber nicht parallel dazu) auffächern (man spricht von "Beugung am Spalt"). Je schmaler der Spalt und somit je präziser die Ortseinschränkung, desto größer ist der Winkelbereich, in den die Photonen abgelenkt werden können. Dies führt wiederum zu einer stärkeren Unschärfe ihres Impulses, der auch die Bewegungsrichtung umfasst. Obwohl alle Photonen des Laserstrahls mit scharf bestimmtem Impuls den Spalt durchlaufen, weichen sie individuell höchst unterschiedlich von ihrem ursprünglichen Impuls ab. Es gibt keinerlei Möglichkeit, vorherzusagen, welchen Weg ein bestimmtes Photon hinter dem Spalt nehmen wird. Man kann lediglich eine statistische Verteilung für den Ablenkungswinkel angeben: Die meisten Photonen gehen geradeaus durch den Spalt, und mit zunehmendem Abstand von dieser Mittelachse erscheint der Strahl immer blasser. Je größer die Ablenkung, desto weniger Photonen nehmen diesen Weg.

Ein vergleichbares Verhalten zeigen Wasserwellen, die als parallele Wellenfronten auf eine schmale Öffnung treffen. Hinter der Öffnung fächern sie sich zu kreisbogenförmigen Wellen auf, umso stärker, je schmaler die Öffnung ist. Man kann das Spaltexperiment also auch über die Wellennatur des Lichts interpretieren.

Noch deutlicher tritt die Wellennatur des Lichts hervor, wenn man es durch zwei eng benachbarte Spalte schickt. Beide Spalte bilden die Quelle von Kreisbogenwellen, die sich auf einem Schirm hinter den Spalten überlagern. Auf der Mittelachse zwischen den Spalten legen die Lichtwellen dieselbe Weglänge vom Spalt zum Schirm zurück. Dort treffen stets gleichzeitig Wellenberge oder Wellentäler aufeinander, sodass die Mittellinie zwischen den Spalten maximale Ausleuchtung erfährt. Bewegt man sich ein wenig von der Mitte nach rechts, verkürzt sich der Weg der Lichtwellen vom rechten Spalt (bis zu dem Punkt, der genau hinter dem Spalt liegt), während sich der Weg zum linken Spalt verlängert. Dadurch treffen die Wellen beider Spalte nicht mehr synchron, sondern mit einem kleinen Zeitversatz ein, sodass bei einem Gangunterschied von einer halben Wellenlänge die beiden Wellen stets im Gegentakt schwingen und einander auslöschen. Das Ganze setzt sich nach links und rechts fort: Bei einer vollen Wellenlänge Gangunterschied addieren sich wieder Wellenberge oder Wellentäler, bei anderthalb Wellenlängen löschen sie sich wieder gegenseitig aus und so weiter. Auf diese Weise entsteht ein Muster aus benachbarten Streifen. Die Lichtwellen "interferieren" miteinander; sie interferieren "konstruktiv", wo Wellenberge auf Wellenberge und Wellentäler auf Wellentäler treffen, genauer gesagt "destruktiv", wo Wellenberge von Wellentälern ausgelöscht werden, und sie bilden so ein "Interferenzmuster".

Interferenzmuster von Laserlicht hinter einem Doppelspalt. In den dunklen Zonen treffen Wellenberge auf Wellentäler und löschen sich gegenseitig aus (destruktive Interferenz). In den hellen Streifen treffen Wellenberge auf Wellenberge und Wellentäler auf Wellentäler, sodass sie sich gegenseitig verstärken (konstruktive Interferenz). Die Gangunterschiede zwischen den Wellen variieren entlang des Schirms aufgrund der unterschiedlichen Entfernungen der Orte auf dem Schirm zu den beiden Spalten. Im oberen Bild ergeben sich helle Streifen dort, wo die gezeichneten Wellenlinien sich am Schirm überschneiden, und dunkle Streifen, wo eine Wellenlinie des Wellenmusters des einen Spalts genau in die Mitte zwischen zwei Linien des Wellenmusters des anderen Spalts fällt.

(Bild: Doubleslit.svg: Wikimedia Commons, Epzcaw und Interference_of_two_waves.png: Wikimedia Commons, Haade, CC-BY-SA-3.0)

Der Niederländer Christiaan Huygens (der auch als Entdecker des Saturnmonds Titan bekannt ist) schlug 1678 als Erster vor, dass Licht wie Schall aus Wellen bestünde. Beim Schall war dies offensichtlich, denn eine klingende Gitarren- oder Geigensaite oder eine angeschlagene Stimmgabel schwingen sichtbar und prägen der umgebenden Luft ein Muster wechselnden Drucks auf, das unser Trommelfell in Schwingungen versetzt und somit für uns hörbar wird.

Huygens' Zeitgenosse Isaac Newton verfocht hingegen Ende des 17. Jahrhunderts die Theorie, dass Licht aus Teilchen bestehe, die er "Korpuskel" nannte und die sich geradlinig ausbreiten sollten. Nur diese erklärten seiner Ansicht nach, wie ein Spiegel ein scharfes Abbild der Umgebung oder eine punktförmige Lichtquelle scharfe Schatten erzeugen konnte.