SARS-CoV-2: Wer ist die Virus-Forscherin im Zentrum der Laborleck-Kontroverse?

Seite 3: Spekulationen und Ängste

Inhaltsverzeichnis

Die direkt an der Arbeit beteiligten Wissenschaftler bestreiten dies als Spekulation. Shi sagte, dass ihr Team keine solchen Antikörper gefunden hat, obwohl sie einräumte, dass einige frühe Tests falsch positive Ergebnisse geliefert hätten, die korrigiert wurden, als die Tests vollständig validiert waren. MIT Technology Review war nicht in der Lage, Huang ausfindig zu machen, aber Gao meinte, dass sein Labor den SARS-Antikörperstatus der Bergleute nie analysiert habe und dass Huangs Aussage – die möglicherweise auf den falsch-positiven Ergebnissen beruht, die Shi bei einem internen Treffen im Jahr 2012 diskutiert hatte – falsch war. Nach dem Ausbruch von COVID-19 untersuchte Shis Team die Mojiang-Proben erneut, um nach Spuren von SARS-CoV-2-Proteinen zu fahnden. Es fand keine.

"Es gibt viele Erreger, die ähnliche Lungenentzündungssymptome wie SARS und COVID-19 hervorrufen können", sagt Lungenspezialist Zhong. Einige Kliniker vor Ort vermuten immer noch, dass die Bergleute an einem Pilz erkrankt sind. "Es bleibt bis heute ein Rätsel." Es ist nicht ungewöhnlich, dass Atemwegserkrankungen eine unbekannte Ursache haben, aber auch wenn Shi nicht herausfinden konnte, woran die Bergleute in Mojiang erkrankt waren, sagte ihr Instinkt ihr, dass hier etwas Interessantes im Gange sein könnte. "Welche Viren lauerten in dieser Höhle?", fragt sie sich. Zwischen 2012 und 2015 unternahm ihr Team dann mehr als ein halbes Dutzend Ausflüge zu dem Schacht, der etwa 1.800 Kilometer von Wuhan entfernt liegt. Sie sammelte 1.322 Fledermausproben.

Das Team suchte nach dem Coronavirus-spezifischen RdRp-Gen. Nachdem sie es fanden, suchten sie es weiter. Schließlich stellte sich heraus, dass die Fledermausproben fast 300 Coronaviren enthielten. Neun davon gehörten zur gleichen Virusgruppe wie SARS-CoV-1 – den so genannten Beta-Coronaviren –, obwohl ihre RdRp-Gene recht unterschiedlich waren. Sie seien "entfernte Cousins", wie Shi erklärt.

Acht der neun Viren waren eng miteinander verwandt, aber eines – aus einer einzigen Kotprobe mit der Bezeichnung "4991" – wies eine ganz andere genetische Signatur auf. "Warum seid ihr so unterschiedlich?" fragte sich Shi mit Blick auf die Viren. Doch schließlich legte sie die Probe zurück in den Gefrierschrank. Denn ihre Arbeit bestand darin, nach Fledermausviren zu suchen, die möglicherweise SARS-ähnliche Epidemien auslösen könnten, – und keine der Mojiang-Sequenzen schien "direkt relevant für unsere Untersuchung zu sein", erklärte sie mir. "Sie standen also nicht im Mittelpunkt unserer Forschung."

Im Jahr 2018 wurde Probe 4991 jedoch wieder hervorgeholt. Das Wuhan Institute of Virology hatte ein neues Sequenziergerät für den Schreibtisch angeschafft, mit dem sich die genetischen Geheimnisse eines Virus viel schneller und kostengünstiger entschlüssen lassen. 4991 gehörte zur ersten Gruppe von Proben, die mit dem neuen Gerät sequenziert wurden. Die Analyse bestätigte, dass sich das in der Probe enthaltene Virus stark von SARS-CoV-1 unterscheidet; die beiden Viren sind im gesamten Genom zu 80 % identisch. (Die Genome der anderen acht Mojiang-Viren, die nach der Pandemie sequenziert wurden, zeigen, dass sie im gesamten Genom nur zu etwa drei Vierteln mit den SARS- und COVID-19-Erregern identisch sind.) Es war für die Forscher wie immer interessant, neue Viren zu finden, aber es schien nichts derart Besonderes zu sein, über das sich ein neues Paper lohnte, sagte Shi: "Es schien kein bemerkenswertes Virus zu sein."

Es war ihrer Einschätzung nach in der Tat so unauffällig, dass man es für entbehrlich hielt: Bei den Versuchen, das Genom zusammenzusetzen, verbrauchten die Wissenschaftler die gesamte Probe. Im Jahr 2018 existierte das Virus nur noch als Sequenz in der Datenbank des WIV. In den meisten Fällen wäre das das Ende der Geschichte gewesen: Das obskure, irrelevante Virus wäre in Vergessenheit geraten. Aber das tat es nicht.

Am 31. Dezember 2019 gab das Gesundheitsamt der Stadt Wuhan seine erste öffentliche Erklärung zu einem merkwürdigen Ausbruch ab. Man erklärte, die Mediziner untersuchten gerade die Ursache von 27 Lungenentzündungsfällen. Das Labor von Shi gehörte zu den ersten, die die Krankheit offiziell erofrschen durften – und Si Haorui, Student und Labormitarbeiter von Shi, war Teil des Teams. Die Gruppe arbeitete rund um die Uhr und hatte in fünf der sieben Patientenproben Coronavirus-RdRp-Gene gefunden. Ihr nächster Schritt war die Sequenzierung des viralen Genoms. "Das ist meine Spezialität", sagte Si, ein schlanker Mann Mitte 20, an dem Tag, als wir uns in der Sequenziereinrichtung des Instituts trafen. "Ich wusste, es stand viel auf dem Spiel. Ich wollte es nicht vermasseln."

Um 8:30 Uhr stand das Genom fest. Die Sequenz, die nun als WIV04 bekannt war, war fast vollständig und von hoher Qualität: Es handelte sich um ein Coronavirus. Shi gab die Sequenz in die internen und internationalen Datenbanken ein, um zu sehen, ob sie neu war. Die nächste Übereinstimmung war die Sequenz aus der Probe 4991, die das Team 2013 in Mojiang entnommen hatte. Das Virus, das nun plötzlich nicht mehr obskur oder irrelevant war, verdiente nun einen offiziellen Namen. Das Team nannte es RaTG13 - Ra für die Fledermausart, in der es gefunden wurde, Rhinolophus affinis; TG für Tongguan, die Stadt, in der es gefunden wurde, und 13 für das Jahr seiner Entdeckung. Wie sie einen Monat später in Nature berichteten, war es zu 96 Prozent identisch mit dem Wuhan-Coronavirus, das bei den neuen Patienten gefunden wurde.

Die Tatsache, dass RaTG13 dem SARS-CoV-2 so ähnlich ist, hat Misstrauen geweckt. Kritiker wie Alina Chan – eine auf Gentherapie spezialisierte Molekularbiologin am Broad Institute des MIT und der Harvard University in Cambridge, Massachusetts – fragen sich, warum in Shis im Februar 2020 veröffentlichtem "Nature"-Artikel nicht erwähnt wird, dass RaTG13 aus der Mojiang-Mine stammt, in der Menschen an eienr mysteriösen Lungenentzündung erkrankt waren. Chan, die der Theorie eines Laborlecks sehr zugeneigt ist, hat auch dazu beigetragen, dass sie weit verbreitet wurde. Sie hat auf Twitter ein großes Publikum. Sie hat auch den "Science"-Brief unterzeichnet, in dem sie und ihre Kollegen zu weiteren Untersuchungen eines möglichen Lab Leak aufruft. In "Viral", einem Buch, das sie gemeinsam mit dem britischen Wissenschaftsautor Matt Ridley verfasst hat, schreibt sie, dass das WIV in dieser Sache "sparsam mit der Wahrheit" umgegangen sei.

Shi versuchte selbst, diesen Verdacht zu zerstreuen, indem sie im November 2020 in "Nature" einen Nachtrag zu ihren Mojiang-Studien veröffentlichte, um zu zeigen, dass das Team in den Proben der Bergleute keine Anzeichen einer Coronavirus-Infektion gefunden hatte. Aber das hat nicht dazu beigetragen, die Spekulationen zu zerstreuen.

Die allgemeine Ähnlichkeit zwischen den beiden Viren ist allerdings kein Beweis dafür, dass RaTG13 die Quelle von COVID-19 ist, so ein im September letzten Jahres in "Cell" veröffentlichter Artikel, der von etwa zwei Dutzend führenden Virologen und Experten für Infektionskrankheiten verfasst wurde. Die beiden Viren mögen zwar verwandt sein, gehören aber zu verschiedenen evolutionären Zweigen, die sich vor einem halben Jahrhundert auseinanderentwickelt haben, sagt David Robertson, Virologe an der Universität Glasgow im Vereinigten Königreich. "RaTG13 kann sich nicht auf natürliche Weise in SARS-CoV-2 verwandelt haben", sagt er. Auch hätte niemand RaTG13 als Grundgerüst für die Entwicklung von SARS-CoV-2 verwenden können, wie einige Befürworter der Lab-Leak-Theorie behaupten: Die beiden Viren unterscheiden sich in etwa 1.100 Nukleotiden, die über ihr gesamtes Genom verteilt sind – eine Lücke, die für jeden realistischen Versuch zu groß ist. Die Herstellung von SARS-CoV-2 aus RaTG13, so die Virologin Angela Rasmussen von der University of Saskatchewan in Kanada, "hätte eine noch nie dagewesene gentechnische Leistung erfordert".

Unterdessen häufen sich die Beweise für die Theorie des natürlichen Ursprungs. Im vergangenen Jahr haben mehrere vom WIV unabhängige Teams mehr als ein Dutzend enge Verwandte von SARS-CoV-2 in China, Japan, Laos, Thailand und Kambodscha entdeckt. In einer im September 2021 veröffentlichten Vorabveröffentlichung berichtete ein Team laotischer und französischer Wissenschaftler über die Entdeckung von Viren in Laos, die laut Robertson noch vor einem Jahrzehnt einen gemeinsamen Vorfahren mit SARS-CoV-2 hatten. Diese neuen Entdeckungen seien ein Beweis dafür, dass sich SARS-CoV-2 höchstwahrscheinlich in freier Wildbahn entwickelt hat, sagt Robertson, der nicht an der Studie beteiligt war. "Wir kommen dem Vorläufer von SARS-CoV-2 immer näher", glaubt er.

Aber selbst wenn keine der Fledermaus-Coronavirus-Proben von Shis Team für die Pandemie verantwortlich sind, sind sie nicht die einzigen Viren, mit denen die Wissenschaftler arbeiten. Ein Teil ihrer Forschung besteht darin, zu untersuchen, wie die Maschinerie der Viren funktioniert – und dazu gehört auch das genetische "Mix and Match" verschiedener Krankheitserreger, um die Funktion der Virusgene zu untersuchen. Könnte eines dieser Chimären die Quelle der Pandemie gewesen sein? Auch hierzu wollte ich mit Shi sprechen.