SARS-CoV-2: Wer ist die Virus-Forscherin im Zentrum der Laborleck-Kontroverse?

Seite 4: Genetische Bastelarbeit

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"Fledermäuse sind in der traditionellen chinesischen Kultur ein Symbol des Segens", sagt sie. Man nennt sie "bian fu", was so viel wie "flach" und "Segen" bedeutet. "Wir sehen oft Fledermausmotive in Schmuck, Keramik und Gebäuden selbst in abgelegenen Dörfern", sagte sie. Als die Sammlung von Fledermaus-Coronavirus-Sequenzen der Forscher wuchs – vor allem nach 2012, als es ihnen erstmals gelang, lebende Viren zu züchten – wollten sie die genetischen Bestandteile ermitteln, die es diesen Viren ermöglichen, Menschen zu infizieren, damit Wissenschaftler womöglich Medikamente und Impfstoffe gegen sie entwickeln können.

Shi interessierte sich besonders dafür, ob das Spike-Protein der einzige Faktor ist, der die Fähigkeit eines Coronavirus, Zellen zu infizieren, beeinflusst – oder ob auch andere Teile des Genoms des Erregers eine Rolle spielen. Eine ihrer Fledermaus-Coronavirus-Sequenzen, SHC014, schien ideal für eine solche Untersuchung. Es war im gesamten Genom zu 95 Prozent identisch mit SARS-CoV-1, aber sein Spike war sehr unterschiedlich. Pseudovirus-Studien zeigten, dass es nicht in der Lage war, in Zellen verschiedener Spezies, einschließlich des Menschen, einzudringen. Bedeutete dies, dass das Virus nicht in der Lage war, uns zu infizieren?

Die Wissenschaftler konnten diese Frage nicht direkt prüfen, da es ihnen nicht gelungen war, ein lebendes Virus aus der Fledermausprobe zu isolieren. Aber zwei genetische Ansätze könnten helfen, Licht ins Dunkel zu bringen, glaubten sie. Der eine bestand darin, das Virus aus seiner Genomsequenz zu synthetisieren; der andere darin, herauszufinden, ob SARS-CoV-1 immer noch Krankheiten auslösen könnte, wenn sein Spike durch den von SHC014 ersetzt würde. Shi verfügte jedoch nicht über die notwendigen Instrumente für diese Art von genetischer Arbeit, also wandte sie sich im Juli 2013 per E-Mail an Ralph Baric, einen renommierten Virusgenetiker an der University of North Carolina in Chapel Hill. Sie wollte eine Zusammenarbeit in diesem Bereich vereinbaren.

Die Zusammenarbeit mit Baric sei nicht sehr eng gewesen, sagt Shi. Es gab laut ihr keinen Austausch von Labormitarbeitern. Shis Hauptbeitrag bestand darin, die Genomsequenz von SHC014 zur Verfügung zu stellen, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht war. Die Ergebnisse der Kooperation, die 2015 in "Nature Medicine" veröffentlicht wurden, waren überraschend. Es stellte sich heraus, dass sowohl das synthetisierte SHC014 als auch die SARS-CoV-1-SHC014-Chimäre in der Lage waren, menschliche Zellen zu infizieren und Mäuse krank zu machen. Beide waren weniger tödlich als SARS-CoV-1, aber – und das wr besorgniserregend – bestehende Medikamente und Impfstoffe, die gegen SARS wirkten, waren nicht in der Lage, sie zu bekämpfen.

In der Zwischenzeit unternahm Shis Team ähnliche Versuche in ihrem eigenen Labor im Rahmen eines von den US National Institutes of Health finanzierten Projekts, das darauf abzielte, die genetischen Bestandteile zu untersuchen, die es Fledermausviren ermöglichen könnten, SARS-ähnliche Krankheiten beim Menschen auszulösen. Doch während sich Baric in der gemeinsamen Arbeit aus "Nature Medicine" auf den menschlichen Erreger SARS-CoV-1 konzentrierte, verwendete Shi nur dessen Fledermausverwandte – vor allem WIV1, das erste Fledermaus-Coronavirus, das ihr Team isoliert hatte. Das tatsächliche Risiko für den Menschen war unbekannt. Als die Pandemie ausbrach, hatte ihr Team insgesamt etwa ein Dutzend chimärer Viren geschaffen, indem es das Spike-Protein von WIV1 mit dem aus neu identifizierten Sequenzen von Fledermaus-Coronaviren austauschte, von denen nur eine Handvoll menschliche Zellen in einer Petrischale infizieren konnte.

Dabei gab es noch mehr Überraschungen. In einem zuvor unveröffentlichten Experiment, das von den NIH als Reaktion auf eine vom US-Magazin "The Intercept" eingereichte Klage nach dem Informationsfreiheitsgesetz freigegeben wurde, testeten die Forscher die Fähigkeit dreier solcher Chimären, Mäuse zu infizieren, die genetisch so verändert sind, dass sie menschliches ACE2 enthalten. Im Vergleich zum Elternstamm WIV1 wuchsen die drei chimären Viren in der Frühphase der Infektion viel schneller in den Mäuselungen. WIV1 holte bis zum Ende des Experiments dann aber auf.

Die Unterschiede überraschten Shi, aber was sie am meisten verwunderte, war, dass die Chimäre, die bei den infizierten Mäusen den größten Gewichtsverlust verursachte – ein Indikator für die Pathogenität eines Erregers – ausgerechnet WIV1-SHC014 war, dessen Spike dem von SARS-CoV-1 am wenigsten ähnelte. Die Chimäre, deren Spike dem von SARS-CoV-1 am ähnlichsten war, hatte keine Auswirkungen auf das Gewicht der Tiere.

Die Ergebnisse der genetischen Studien in den Laboren von Baric und Shi – die beide mit der in New York ansässigen EcoHealth Alliance von Peter Daszak zusammenarbeiten – haben überzeugende Beweise dafür geliefert, dass das Spike-Protein nicht der einzige Faktor dafür ist, ob ein Virus ein Tier krank machen kann, so die Forscher. "Wir können das Potenzial von Viren, den Menschen zu befallen, nicht nur anhand von Pseudovirus-Assays oder Vorhersagen auf der Grundlage von Genomsequenzen und einer molekularen Modellierung beurteilen", sagt Shi.

Aber: Keine der in Shis Labors erzeugten Chimären war eng mit SARS-CoV-2 verwandt und hätte die Pandemie auslösen können. Es scheint jedoch, dass das Team mindestens ein chimäres Virus, WIV1-SHC014, mit einem sogenannten Funktionsgewinn ("Gain of Function") – also einer höheren Pathogenität – gegenüber dem Elternstamm ausgestattet hätte. Kritiker wie Richard Ebright, Molekularbiologe an der Rutgers University, betrachten dies als jene Art von Gain-of-Function-Forschung, die einer strengen behördlichen Aufsicht unterliegen sollte. Shi entgegnet dem, dass ihr Team in keiner dieser Studien – auch nicht in der Zusammenarbeit mit Baric und EcoHealth – die Absicht gehabt habe, gefährlichere Viren zu schaffen. Die Forscher waren zum Zeitpunkt der Vorbereitung der Studien schlicht nicht davon ausgegangen, dass die Chimären eine erhöhte Übertragbarkeit oder Pathogenität bei Säugetieren aufweisen würden.

Einem NIH-Sprecher zufolge wurde der von Shi gemeinsam mit der EcoHealth Alliance beantragte Zuschuss – der einzige, in dem das WIV explizit ebenfalls indirekt Geld erhalten sollte – von der Behörde geprüft. Die Experten seien zum Schluss gekommen, dass sie nicht in den Bereich der Regulierung der Gain-of-Function-Forschung falle.

Virologen wie Stephen Goldstein von der University of Utah argumentieren, dass solche genetischen Studien dazu beitragen könnten, uns vor künftigen Pandemien zu schützen. Im vergangenen Jahr haben Forschungsteams, darunter auch das von Baric, die Möglichkeit aufgezeigt, so genannte Pan-Coronavirus-Impfstoffe zu entwickeln, die gleichzeitig eine Gruppe von Coronaviren blockieren könnten – darunter SARS-CoV-1, SARS-CoV-2, ihre von Shi entdeckten Fledermausverwandten und möglicherweise weitere ähnliche Viren, die noch nicht identifiziert wurden. Im vergangenen September gab das NIH bekannt, dass es 36,3 Millionen US-Dollar für die Fortsetzung dieser Arbeiten zur Verfügung stellen wird. Die Entdeckung neuartiger Viren in der freien Natur und der Einsatz genetischer Techniken zur Untersuchung ihrer Funktion im Labor könnte nach Ansicht der Forscher Wege zur Eindämmung und Behandlung künftiger Krankheitsausbrüche ähnlich wie bei SARS und COVID-19 aufzeigen. Allerdings halfen diese Methoden zumindest bei der aktuellen Pandemie nicht genug, um sie aufzuhalten.

Auch wenn keines der chimären Viren aus Shis Labor die Quelle von COVID-19 war, gibt es weitere Bedenken, dass die Biosicherheitsstandards im Labor in Wuhan nicht streng genug waren, um zu verhindern, dass dortige Forschungsaktivitäten eine Pandemie auslösen. Studien mit lebenden Viren und genetische Experimente an diesen sind von Natur aus riskant. Selbst bei strengsten Biosicherheitsvorkehrungen können Unfälle passieren – und das tun sie auch, wie die Vergangenheit zeigt. Wissenschaftler könnten sich im Labor versehentlich infizieren, durch genetisches Anpassungen könnte unerwartet ein "Supervirus" entstehen, dessen Fähigkeit, aus dem Labor zu entkommen, die Biosicherheitsstufe seiner Elternstämme übersteigt.

Ich fragte Shi, wie China die Coronavirusforschung regelt, um die Risiken zu minimieren. "In China gibt es keine pauschale Regelung der Biosicherheit für die gesamte Coronavirus-Forschung", räumte sie ein. "Alles wird von Fall zu Fall beurteilt." Studien zu SARS-CoV-1 und SARS-CoV-2 müssen beispielsweise in BSL-3-Laboren durchgeführt werden, während die humanen Coronaviren, die Erkältungen verursachen, unter BSL-2-Bedingungen behandelt werden. Doch was ist mit Fledermausviren?

Der Biosicherheitsausschuss des WIV hat vor einem Jahrzehnt entschieden, dass Arbeiten mit Tieren mit BSL-3 durchgeführt werden müssen, während molekulare Arbeiten an Zellkulturen mit Fledermaus-Coronaviren in BSL-2 durchgeführt werden dürfen, allerdings in Biosicherheitskabinen mit Luftfilterung und Unterdruck, um die Viren im Inneren zu halten.

Einige Wissenschaftler wie Ebright halten dies für unsicher. Fledermaus-Coronaviren sind, wie er es ausdrückt, "unklare Erreger" mit unbekannter Virulenz und Übertragbarkeit. "Der einzig akzeptable Ansatz besteht darin, mit einer hohen Biosicherheitsstufe zu beginnen (...} und die Biosicherheitsstufe nur dann herabzusetzen, wenn es sich als sinnvoll erweist", erklärte er mir in einer E-Mail.

Andere sind jedoch nicht der Meinung, dass Shis Arbeit auf laxe Biosicherheitsstandards in China hinweist. Die vorherrschende Meinung unter den Wissenschaftlern weltweit war – und ist es in gewissem Maße immer noch –, dass sich Fledermaus-Coronaviren höchstwahrscheinlich erst in einem Zwischenwirt weiterentwickeln müssen, bevor sie Menschen infizieren könnten. "Der Biosicherheitsausschuss jeder einzelnen Einrichtung muss die realen Risiken mit den potenziellen Risiken abwägen", sagt Rasmussen von der University of Saskatchewan und fügt hinzu, dass die Einstufung des WIV zum damaligen Zeitpunkt angemessen war.

Und dennoch: In einem Artikel, der im April 2020 veröffentlicht wurde, schreibt Josh Rogin, Kolumnist der "Washington Post", dass US-Beamte nach ihrem Besuch des WIV im Jahr 2018 zwei offizielle Warnungen wegen unzureichender Biosicherheit im Labor nach Washington zurückgeschickt hätten. Rogins anonyme Quellen teilten ihm mit, die geheimen Botschaftsberichte hätten Alarm auslösen sollen, was die Biosicherheit in China anbetrifft. Ein Beamter der Trump-Regierung sah in den Dokumenten gar "ein weiteres Beweisstück für die Möglichkeit, dass die Pandemie das Ergebnis eines Laborunfalls in Wuhan war".

Der Beitrag markierte einen Wendepunkt in der Debatte über die Ursprünge von COVID-19 und katapultierte die Labor-Theorie in den Mainstream. Seither argumentieren auch seriöse Medien, dass das WIV eine "schlampige" Biosicherheitspraxis an den Tag gelegt haben könnte.

In den Botschaftsberichten selbst, die erst einige Monate später – allerdings teilweise geschwärzt – veröffentlicht wurden, wird zwar vor einer unzureichenden Personalausstattung gewarnt, aber es werden keine konkreten gefährlichen Praktiken im Bereich der biologischen Sicherheit genannt. In einem Schreiben vom 19. Januar 2018 wurde der Mangel an geschultem Personal, das "für den sicheren Betrieb dieses Hochsicherheitslabors erforderlich ist", in einem Abschnitt erwähnt, in dem erörtert wurde, wie ein Mangel an geschultem Personal "die Forschung behindern" könnte. Im zweiten Bericht, der drei Monate später übermittelt wurde, heißt es, dass dies "noch mehr Möglichkeiten für den Austausch von Experten eröffnet." In einem Bericht vom Januar wurde auch die Fähigkeit des Wuhan-Instituts hervorgehoben, "trotz Einschränkungen produktive Forschung zu betreiben" – und es hieß, dass die Arbeit "die fortgesetzte Überwachung SARS-ähnlicher Coronaviren aus Fledermäusen" und die "Untersuchung der Schnittstelle zwischen Tier und Mensch" entscheidend für die Vorhersage und Vorbeugung künftiger Ausbrüche von Coronaviren sei. Rogin teilte der MIT Technology Review in einer E-Mail mit, dass er weiter zu seiner Berichterstattung in dem Artikel steht.

Shi erklärt all das anders. Sie meint, der Mangel an geschultem Personal bedeute, dass China seine Einrichtungen in Wuhan nicht optimal nutzen könne. Aber das bedeute nicht, dass ungeschultes Personal in BSL-3- oder BSL-4-Laboren eingesetzt werde. Das WIV halte sich an die internationalen Normen für Biosicherheit und ihre Forschung vor der Pandemie habe sich auf Fledermausviren konzentriert, die mit dem ursprünglichen SARS-Virus eng verwandt seien. "RaTG13 war der engste Verwandte von SARS-CoV-2, den wir je hatten", sagt sie. "Was wir nicht hatten, kann auch nicht nach außen gelangt sein."

Shi wies auch Vorwürfe zurück, dass die erste menschliche Infektion mit SARS-CoV-2 von jemandem aus ihrem Team verursacht worden sein könnte, der sich das Virus entweder direkt im Labor oder draußen eingefangen hatte. Zwischen dem Beginn des Ausbruchs in Wuhan und den ersten Impfungen sei jedes Mitglied ihres Teams mehrfach auf virale Nukleinsäuren getestet worden, um eine laufende Infektionen oder Antikörper, die auf eine frühere Exposition hindeuten würden, festzustellen. "Niemand wurde positiv getestet", sagte sie. "Keiner von uns hat sich unter irgendwelchen Umständen mit Coronaviren infiziert, auch nicht bei der Probenahme von Fledermäusen im Feld." Daran erstaunt allerdings, dass SARS-CoV-2 in Wuhan zwischen Ausbruch und Start der Impfkampagne stark grassierte.