SARS-CoV-2: Wer ist die Virus-Forscherin im Zentrum der Laborleck-Kontroverse?

Seite 5: Politik des Misstrauens

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Neben Shis Kritikern gibt es auch viele Wissenschaftler, die sich bestürzt darüber zeigen, wie Shi und das Wuhan Institute of Virology in den Medien des Westens dargestellt wurden. Selbst diejenigen, die keine Verbindung zu Shi oder WIV haben – wie Robertson von der University of Glasgow und Rasmussen von der University of Saskatchewan – sahen die Berichterstattung zum Teil als geradezu "schockierend voreingenommen" an und spekulieren, dass sie zum Teil von geopolitischen Motiven oder zumindest tief verwurzelten Vorurteilen geleitet war.

Für China-Experten wie Joy Zhang, Soziologin an der University of Kent in Canterbury, Großbritannien, die sich auf chinesische Wissenschaftspolitik spezialisiert hat, ist es schwer, die spezifischen Anschuldigungen gegen Shi von "allgemeinen Verdächtigungen" gegenüber China zu trennen. Shi sei "ein Opfer des westlichen Misstrauens gegenüber China und gegenüber der chinesischen Wissenschaften", sagt sie.

Dieses Misstrauen kommt nicht selten vor. Filippa Lentzos, Biosicherheitsexpertin am King's College London, sagte mir im Februar letzten Jahres, es sei "einfach zu spät", um herauszufinden, was passiert sei, denn "alles, was sich zum Beispiel in den Gefrierschränken des Wuhan Institute of Virology befand", sei ausgeräumt worden, die Datensätze gesäubert oder bereinigt. Sie sagt, das sei auch jetzt noch ihre Ansicht. Shi selbst hält Behauptungen, ihr Labor würde problematische Datensätze vernichten (oder hätte das getan), hingegen für "unbegründet" und nennt solche Vowürfe "entsetzlich". Ihre Worte klingen hart: "Wenn es das ist, was die denken, dann können wir nichts tun, um sie vom Gegenteil zu überzeugen." Unrecht hat sie damit nicht: "Selbst wenn wir [den Kritikern] dann alle Aufzeichnungen geben, würden sie immer noch behaupten, wir hätten etwas versteckt oder die Beweise vernichtet." Doch an einer als generell empfundenen Intransparenz der chinesischen Seite ändert das nicht.

Doch einige im Westen stimmen Shi zu. "Ich bin ziemlich beunruhigt über Leute, die mit dieser Art von äußerst schwerwiegenden Anschuldigungen um sich werfen", sagte mir Nancy Connell, eine Mikrobiologin und Mitglied des "National Science Advisory Board for Biosecurity" der NIH, im Februar letzten Jahres, als sie noch für das Johns Hopkins Center for Health Security tätig war. "Das ist höchst unverantwortlich."

Aber selbst wenn die Labor-Theorie teilweise durch ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber China genährt wird, es gibt ein Glaubwürdigkeitsproblem des Landes – und zudem eine Reihe merkwürdiger Fehltritte, die dazu beitrugen.

An einem heißen Julinachmittag des Jahr 2021 begleitete ich Shi und ihr Team bei der Feldforschung. Wir befanden uns neben einer Fledermaushöhle in der Provinz Hubei. (Wo genau wird hier nicht genannt, da das Team kein unwillkommendes Medieninteresse möchte.) Die Dämmerung brach schnell herein und die Luft roch beißend und muffig, als wir uns hineinbegaben. Tausende von Hufeisenfledermäusen hingen an der Höhlendecke – ruhig, bewegungslos und in gleichmäßigen Abständen, wie Kampfjets auf einem Flugplatz, die auf ihren Startbefehl warten.

Um die Fledermäuse zu fangen, verwendeten die Forscher ein gigantisches Netz aus feinem Nylongewebe, das zwischen zwei Stangen aufgehängt war. Shi und Yang drückten die Stangen gegen den Höhleneingang und passten ihre Position so an, dass sie die Lücken zwischen dem Netz und dem Felsgestein abdeckten. Wir schalteten unsere Stirnlampen aus und warteten in der Dunkelheit. Augenblicke später ertönte ein Geräusch über uns, es war ein Flattern. Ein Schatten wirbelte durch die Luft und schoss in das Netz, wie ein Insekt, das in ein Spinnennetz fliegt. Die erste Fledermaus blieb darin hängen. "Jetzt geht's los", rief Shi. "Unser erster Fang!"

Die Höhle, die am Fuße eines üppig bewaldeten Hügels in einem kleinen Dorf liegt, ist Shis "Homebase". Sie nutzt sie für die Entnahme von Virusproben, die Ausbildung studentischer Mitarbeiter und die Entwicklung von Technologien, die die Bewegungen von Fledermäusen und die von ihnen übertragenen Krankheitserreger aufspüren sollen. Bisher wurden nur entfernte Verwandte bekannter Coronaviren gefunden; ihre Bedeutung ist unklar. (Bei Fledermäusen in einer anderen Höhle in Hubei wurden jedoch SARS-ähnliche Viren gefunden.) "Wir sammeln gerade die ersten Teile des Puzzles auf", sagte mir Shi. "Wir wissen nie, was die nächste Pandemie auslösen wird."

Und das Team arbeitet weiter an dieser Aufgabe. Die Pandemie hat einem Aspekt ihrer Forschung zusätzliche Dringlichkeit verliehen: die Ermittlung der Expositionsrisiken, denen die Landbevölkerung ausgesetzt ist. In früheren Studien fanden Shi und ihre Kollegen heraus, dass bis zu 4 Prozent der Menschen, die in Südchina in der Nähe von Fledermäusen leben und eng mit Wildtieren arbeiten, mit gefährlichen, von Tieren übertragenen Viren, einschließlich Coronaviren, infiziert sind; bei Metzgern lag die Infektionsrate bei 9 Prozent. Das laotische und französische Team, das die nahen Verwandten von SARS-CoV-2 entdeckte, stellte fest, dass eine von fünf Personen, die direkten Kontakt zu Fledermäusen und anderen Wildtieren hatten, Coronavirus-Antikörper aufwiesen.

Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sich Viren, die eng mit SARS-CoV-2 verwandt sind, über ein riesiges geografisches Gebiet ausbreiten könnten, das sich über mindestens 4.800 Kilometer von Japan bis Kambodscha erstreckt. Das Bevölkerungswachstum, der Handel mit Wildtieren, die fortschreitende Abholzung der Wälder und die Verbesserung der Transportmöglichkeiten in diesen Regionen haben dazu geführt, dass tierische Krankheitserreger immer leichter auf den Menschen übergehen können. Robertson, Virologe an der Universität Glasgow, hält dies für eine sichtbare und unmittelbare Bedrohung: "Es ist wirklich erschreckend, wenn man sich vorstellt, wie wir es unser Leben beeinträchtigen könnten, wenn wir nicht herausfinden, wo sich [diese Viren] befinden." Wir riskierten so neue Ausbrüche.

Viele Wissenschaftler sind der Meinung, dass China auf den Erkenntnissen der WHO-Mission aufbauen und eine langfristige Überwachung einrichten sollte, um zu verhindern, dass Viren von einer Art zur anderen überspringen. Vielleicht sollte man sich auf Farmen in Südchina konzentrieren, die Tiere für den Huanan-Markt in Wuhan lieferten – oder auf Tierarten, die bekanntermaßen anfällig für SARS-CoV-2 sind, wie Zibetkatzen, Nerze, Dachse, Marderhunde. Und natürlich auf die Menschen, die in der Nähe von Wildtieren leben oder im Tierhandel arbeiten. Dies würde nicht nur dazu beitragen, den Ursprung von COVID-19 zu ermitteln, sagt Fabian Leendertz, Experte für zoonotische Krankheiten und Gründungsdirektor des "One Health"-Helmholtz-Instituts in Greifswald, der an der WHO-Mission teilgenommen hat. "Es geht auch darum, das Risiko der nächsten Pandemie zu verringern", sagt er. "Es kann helfen, den Aufbau von Kapazitäten in ländlichen Gebieten zu stärken, die bislang vernachlässigt werden. Es sollte eine konzertierte globale Bemühung sein."

Eine solche internationale Zusammenarbeit mit China wird jedoch aufgrund der gegen das WIV erhobenen Vorwürfe immer unwahrscheinlicher. Einem WHO-Sprecher zufolge sind noch alle Hypothesen zur Virusherkunft offen. Die Theorie eines Laborlecks müsse weiter untersucht werden, möglicherweise mit zusätzlichen Missionen unter Beteiligung von Experten für Biosicherheit. Im November letzten Jahres hat die WHO eine Beratergruppe eingesetzt, die die Ursprünge von COVID-19 und künftigen Epidemien untersuchen und Studien über neu auftretende Krankheitserreger durchführen und leiten soll. Nach Angaben des Sprechers wird die Gruppe in den kommenden Wochen eine erste Reihe von Empfehlungen veröffentlichen.

Shi ist sich der kontroversen Natur ihrer Arbeit bewusst und stimmt zu, dass es dringend notwendig ist, die Aufsicht über riskante Forschung zu stärken. Sie begrüßt eine breitere gesellschaftliche Debatte über die Suche nach neuen Viren in freier Wildbahn und die Manipulation von Viren im Labor. Letztere wird von einigen Biosicherheitsexperten vehement abgelehnt. "Aber dafür muss man mich nicht ans Kreuz nageln", sagte sie mir.

Nachdem ich im vergangenen Jahr mit Dutzenden von Wissenschaftlern gesprochen habe, ist mir klar geworden, dass die Meinung der Menschen über die Lab-Leak-Theorie zum großen Teil davon abhängt, ob sie Shi glauben oder nicht. Einige Forscher unterstützen sie, zum Teil weil sie sie als Person kennen oder ihre Arbeit verstehen – oder weil sie bereit sind, sich mit der chaotischen Realität der Wissenschaften und Chinas mangelnder Transparenz abzufinden. Andere, möglicherweise getrieben von einem tieferen Misstrauen gegenüber China, äußern schwerwiegenden Bedenken hinsichtlich der Biosicherheit. Sie haben den starken Wunsch nach mehr Transparenz. Das führt dazu, dass sie fast jeden Beweis ablehnen, der Shi entlasten könnte – und sie betrachten alle Ungereimtheiten rund um das WIV als bewusste Versuche, ein Verbrechen zu vertuschen.

Es überrascht nicht, dass die Anschuldigungen auch persönliche Schmerzen bei der "Fledermausfrau" verursacht haben. "Ich bin auch nur ein Mensch", sagte Shi. "Haben sie mal darüber nachgedacht, wie es sich anfühlt, wenn man zu Unrecht beschuldigt wird, eine Pandemie ausgelöst zu haben, die Millionen von Menschen getötet hat?" Seit dem Beginn der Pandemie hat Shi zahlreiche beleidigende E-Mails und Telefonanrufe und natürlich auch Morddrohungen erhalten. Sie wurde als Lügnerin, Massenmörderin und Komplizin der Kommunistischen Partei Chinas bezeichnet (deren Mitglied sie aktuell nicht ist). Im Mai 2020 wurde fälschlicherweise gar behauptet, sie sei mit fast 1000 Geheimdokumenten nach Frankreich übergelaufen.

In Shis Büro, das ganz im Zeichen der Fledermaus steht, fragte ich sie, was die letzten zwei Jahre für sie bedeutet haben. Ihr mädchenhaftes Gesicht verfinsterte sich. "Ich kann es kaum ertragen, zurückzublicken", sagte sie und wandte ihren Kopf ab. Es folgte ein langes Schweigen. "Früher habe ich den Westen bewundert. Ich dachte immer, es sei eine gerechte und leistungsorientierte Gesellschaft. Ich dachte auch, es muss wunderbar sein, in einem Land zu leben, in dem jeder die Regierung kritisieren darf."

"Und was denken Sie jetzt?", hakte ich nach. "Jetzt denke ich nur, wenn man Chinese ist, spielt es keine Rolle, wie gut man in seinem Job ist – denn man wird nach seiner Nationalität beurteilt." Sie habe jetzt erkannt, dass westliche Demokratien "heuchlerisch" seien und "ein Großteil der Medien von Lügen, Vorurteilen und der Politik gesteuert" werde. Shi atmete scharf ein, ihr Körper spannte sich an und das Blut schoss ihr in die Wangen. "Sie haben für mich ihre moralische Überlegenheit verloren." Und wenn die Politik Wissenschaft verdränge, dann gebe es "keine Grundlage für eine Zusammenarbeit mehr".

Die englische Version dieses Beitrags wurde vom Pulitzer-Zentrum unterstützt. Jane Qiu ist unabhängige Wissenschaftsjournalistin mit Sitz in Peking und eine ehemalige Knight Science Journalism Fellow am MIT.

(bsc)