SARS-CoV-2: Wer ist die Virus-Forscherin im Zentrum der Laborleck-Kontroverse?

Shi Zhengli arbeitet am Wuhan Institute of Virology als Expertin für Fledermausviren – und sie steht im Mittelpunkt der Frage, wie SARS-CoV-2 in die Welt kam.

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Shi Zhengli (rechts) zusammen mit Yang Xinglou bei der Probenentnahme.

(Bild: Jane Qiu)

Lesezeit: 55 Min.
Von
  • Jane Qiu
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Dieser Ort nimmt in der außergewöhnlichen Geschichte der COVID-19-Pandemie einen entscheidenden Platz ein: Als führendes Zentrum für Coronavirus-Forschung war das Wuhan Institute of Virology, kurz WIV, die erste Einrichtung, die das neuartige Virus isolierte und als erste auch sein Genom sequenzierte. Dahinter steckte die Virologin Shi Zhengli, die mit ihrem WIV-Labor seit Jahren daran arbeitet, virale Genome von Fledermausviren zu sequenzieren. Sie will verstehen, wie die Mikroorganismen die Fähigkeit erlangen, Menschen zu infizieren. Und dafür hat sie in den letzten 18 Jahren zusammen mit ihrem Team mehr als 20.000 Proben von Fledermauskolonien in ganz China gesammelt.

Shis Arbeit, die ihr den Spitznamen "Chinas Fledermausfrau" eingebracht hat, ist aber auch Gegenstand einer großen Kontroverse. Kritische Forscher und Journalisten – aber auch Politiker – haben die Vermutung geäußert, dass ihre Fledermausproben die Quelle von SARS-CoV-2 sein könnten. So wurde behauptet, dass das Virus per Anhalter nach Wuhan gelangt sein könnte, indem es eines ihrer Teammitglieder bei der Probenahme von Fledermäusen infiziert hat. Andere spekulierten, die lebenden Viren, die ihr Team im Labor gezüchtet hat, könnten die Quelle der Pandemie sein – darunter auch solche, die genetisch manipuliert wurden.

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Die Welt hoffte, dass die Weltgesundheitsbehörde WHO Aufklärung bringen könnte. Die Aufgabe ihres eigens nach China geschickten Teams bestand darin, zu untersuchen, wann und wo die Pandemie ausgebrochen war und wie das neue Virus auf den Menschen überging. Der WHO-Bericht, der im März letzten Jahres veröffentlicht wurde, kam zu dem Schluss, dass es "extrem unwahrscheinlich" sei, dass COVID-19 durch einen Laborunfall verursacht wurde. Als wahrscheinlichste Situation stufte das Team ein, dass das Virus von Fledermäusen über ein Zwischentier auf den Menschen übergesprungen war. Ihre Ergebnisse, die durch in Fachzeitschriften veröffentlichte Forschungsergebnisse und laufende Studien gestützt werden, legen nahe, dass die Pandemie wahrscheinlich auf dem Huanan-Meeresfrüchte-Großmarkt im Zentrum von Wuhan begann, wo lebende Säugetiere verkauft wurden und die meisten der frühen COVID-19-Fälle auftraten.

Doch nicht alle stimmten dem zu – insbesondere gab es Kritik an der Unabhängigkeit des Teams und der Transparenz der chinesischen Gastgeber. Doch die Mehrheit der Virologen und Experten für Infektionskrankheiten, insbesondere diejenigen, die sich direkt mit der Frage des Ursprungs der Pandemie befassen, neigen immer noch zu dieser Theorie – sofern nicht neue Beweise auftauchen sollten , die sie vom Gegenteil überzeugen.

Die Übertragung von Tieren auf den Menschen "war in den vergangenen Jahrzehnten der Auslöser für fast jede größere Epidemie", sagt Shis langjähriger Mitstreiter Linfa Wang, ein Experte für neue Infektionskrankheiten an der Duke-National University of Singapore Medical School und Mitglied des WHO-Teams, das 2003 die Ursprünge der ersten Inkarnation von SARS untersuchte – einer tödlichen Infektionskrankheit, die durch ein Coronavirus verursacht wurde, das heute als SARS-CoV-1 bekannt ist. An dieser Krankheit erkrankten zwischen 2002 und 2004 weltweit 8.000 Menschen und fast 800 starben. "Diese Übertragung ist ein gängiger und gut dokumentierter Weg", sagt er.

Doch ein Jahr nach dem Besuch der WHO in Wuhan haben die Seuchendetektive noch immer kein verantwortliches Tier oder andere unbestreitbare Beweise für einen natürlichen Ursprung des Virus gefunden. Kritiker stellen auch die Schlussfolgerungen des WHO-Teams in Frage – unter anderem weil eines seiner Mitglieder, Peter Daszak, Ökologe und Präsident der EcoHealth Alliance, potenzielle Interessenkonflikte hat. Er ist ein prominenter Verfechter der Theorie des natürlichen Ursprungs von SARS-CoV-2.

Die Spekulationen über die Möglichkeit eines Laborunfalls haben mittlerweile stark zugenommen. Der Verdacht wird geschürt durch Bedenken hinsichtlich der Biosicherheit im Labor in Wuhan. Zudem gibt es politische Spannungen zwischen China und den USA und das allgemeine Gefühl, dass man der chinesischen Regierung nicht trauen könne.

Wissenschaftler wie David Relman, Experte für Mikrobiologie und Biosicherheit an der Stanford University, geben sich sogar "bestürzt über die Art und Weise, wie die Theorie eines Laborlecks abgetan" wurde. Er half dabei, eine Gruppe von 18 Wissenschaftlern zu organisieren, die im Mai letzten Jahres ein in "Science" veröffentlichtes Schreiben unterzeichneten, in dem sie weitere Untersuchungen zu einem möglichen Labor-Unfall forderten. (Mindestens zwei der Beteiligten haben sich später von dem Brief distanziert, nachdem sie mitbekamen, dass er die Laborleck-Theorie antrieb.) Kurz darauf wies auch US-Präsident Joe Biden seine Geheimdienste an, die Untersuchung der Ursachen der Pandemie zu intensivieren. Aus dem im Oktober freigegebenen Bericht geht hervor, dass die Untersuchung zu "keinem eindeutigen Ergebnis" führte.

Im Dezember 2020, einen Monat vor dem Besuch der WHO, begab auch ich mich auf die Suche nach Antworten. An einem kalten Nachmittag traf ich Shi Zhengli zum ersten Mal persönlich. Wir hatten Anfang des Jahres für einen im "Scientific American" veröffentlichten Artikel miteinander gesprochen. Der Zugang, den sie mir gewährt hat, war erstaunlich. Sie spricht nur selten mit der Presse – und ihre Kontakte zu Journalisten, die für westliche Medien schreiben, beschränken sich normalerweise auf E-Mails und SMS. Sie meinte, dass sie mit mir sprechen würde, weil ich aufgrund meines wissenschaftlichen Hintergrunds – ich war Molekularbiologin – "die Nuancen und die Komplexität ihrer Arbeit" verstehen könne. Außerdem verstünde ich aufgrund meiner Herkunft China und könne mich in meiner Muttersprache verständigen. So habe ich auch die Interviews geführt.

Wir trafen uns also zum Mittagessen und machten anschließend einen Spaziergang in einem nahe gelegenen Park. Ein paar Tage später besuchte ich dann den städtischen Campus des Instituts im Zentrum von Wuhan – etwa 20 Kilometer von dem Vorort entfernt, den das WHO-Team später besichtigte. Shi ist eine zierliche Frau, hat kurzes gewelltes Haar, das ordentlich gekämmt ist. Ihre Stimme ist hoch und angenehm, man merkt, dass sie als Hobby singt. An diesem Tag trug sie einen beigen Pullover und blaue Jeans. Als wir zu anderen Teilen ihres Labors gingen – den Tiefkühltruhen, in denen Fledermausproben aufbewahrt werden, und den Räumen für die Kultivierung von Zellen in Petrischalen – erklärte sie mir, dass ihr Team aus etwa drei Dutzend Forschern bestehe. Das ist viel für ein chinesisches Labor, aber es ist nicht der gigantische Forschungsbetrieb, den sich viele Außenstehende vorstellen. "Ich verfüge nicht über eine Armee an Forschern oder unbegrenzte Ressourcen", sagte sie. Bis zum Ausbruch der Pandemie war die Coronavirus-Forschung kein Trendthema und konnte daher auch nicht leicht Finanzmittel anziehen.

Shi gehört zu der seltenen Sorte von Virologen, die sich in der Natur bei der Probenentnahme genauso wohl fühlen wie im Labor. Sie wuchs in einem kleinen Dorf in der zentralchinesischen Provinz Henan auf und verbrachte die meiste Zeit ihrer Kindheit in den Bergen. Sie betrachtet sich selbst als nicht besonders ehrgeizig. Als sie Ende 1987 ihren Abschluss an der renommierten Wuhan-Universität machte, sagte sie mir: "Ich dachte mir, ich hätte mein berufliches Ziel erreicht, und der nächste Schritt wäre nun, zu heiraten und Kinder zu bekommen." Der Hauptgrund für ihr Studium an diesem Ort war, dass sie in der gleichen Stadt wie ihr damaliger Freund wohnen wollte. Da China jedoch damals in die Entsendung vielversprechender junger Wissenschaftler ins Ausland Geld steckte, ergriff Shi diese Gelegenheit – und ging für ihren Doktortitel nach Frankreich.

Im Jahr 2000 promovierte sie an der Université Montpellier 2. Es war eine ungewöhnliche Entscheidung, da sie kein Französisch sprach – und eine harte, da sie ihren kleinen Sohn in China zurücklassen musste. Das Stipendium reichte nicht aus, um eine junge Familie zu ernähren. Aber die Erfahrung hinterließ bei ihr einen positiven Eindruck; sie schätzte vor allem die westliche Kultur, in der "kritisches und unabhängiges Denken und ein Nicht-der-Masse-Folgen" geschätzt werden. "Ohne diese Dinge kann man keine hervorragende Wissenschaft betreiben. Das ist etwas, was China wirklich besser machen muss."

Anschließend kehrte sie an das Institut in Wuhan zurück, wo sie sich bis 2004 hauptsächlich mit Problemen in der Aquakultur beschäftigte, mit Infektionen und Schädlingen. Zu jener Zeit war die Welt noch von SARS betroffen – und Wang, der Spezialist für Infektionskrankheiten an der Duke-NUS, arbeitete in Australien und suchte in China nach Virologen, die bei der Suche nach den Ursprüngen der neuen Krankheit helfen würden. Shi ergriff die Gelegenheit und schloss sich einem internationalen Team an, das Blut, Urin, Speichel und Kot von Fledermauskolonien in Bergregionen in ganz China sammelte. Innerhalb eines Jahres fanden sie SARS-ähnliche Coronaviren in den Tieren, doch es dauerte fast ein Jahrzehnt, bis sie beweisen konnten, dass Fledermäuse auch die Quelle der Ansteckung waren. Durch ihre Zusammenarbeit wurden Shi und Wang zu Freunden, die auch schon mal zu Karaoke-Duetten ansetzten. Er erhielt den Spitznamen "Feldermausmann", sie den der "Fledermausfrau".