Schule digital: "Ich habe ziemlich viel Angst, um ehrlich zu sein"

Ein Gespräch mit Xueling Zhou von der Schüler- und Schülerinnenvertretung NRW über die Situation an Schulen in der Pandemie. Wie geht es Jugendlichen jetzt?

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 177 Kommentare lesen

(Bild: Rido/Shutterstock.com)

Lesezeit: 24 Min.
Inhaltsverzeichnis

Nordrhein-Westfalen ist das bevölkerungsreichste Bundesland Deutschlands und hat mit seinen rund drei Millionen Schülerinnen und Schülern auch im Ländervergleich die meisten Kinder und Jugendlichen zu versorgen.

Xueling Zhou ist Mitglied des Vorstandes der Landesschüler:innenvertretung NRW (LSVNRW). Sie ist momentan in der 11. Klasse eines Kölner Gymnasiums und hat stellvertretend für die LSVNRW und die Schülerinnen und Schüler des Landes NRW mit uns über die Situation an den Schulen in der Coronavirus-Pandemie gesprochen.

Mehr Infos

Die landesweite Vertretung der Schülerinnen und Schüler Nordrhein-Westfalen (kurz LSVNRW, Eigenschreibweise Landesschüler*innenvertretung), vertritt die Interessen der etwa 3 Millionen Schüler*innen in Nordrhein-Westfalen (Schüler:innen der Berufskollegs eingerechnet). Es werden 3267 Grundschulen, 704 Hauptschulen, 557 Realschulen, 629 Gymnasien, 220 Gesamtschulen, 414 Weiterbildungs- und Berufskollegs, 730 Förderschulen und 36 Schulen für Kranke repräsentiert.

In der Coronavirus-Pandemie wird häufig über Kinder und Jugendliche gesprochen. Ihr seid – wie sehr häufig gesagt wird – "die Leidtragenden der Pandemie". In der Berichterstattung kommt ihr aber eher selten selbst zu Wort. Deshalb nun direkt die Frage an dich: Wie erlebt ihr Schülerinnen und Schüler das Pandemieschuljahr 2020/2021 bisher?

Ganz unterschiedlich. Wir stehen auf jeden Fall vor einer Menge an Herausforderungen, die wir bisher so nicht hatten. Wir kritisieren aber ganz klar die kurzfristigen Entscheidungen der Landesregierung.

Als Beispiel: Die Schulen bekommen Donnerstagabend die Mail, dass montags wieder komplett Präsenzunterricht stattfindet. Das geht schonmal gar nicht. Das sorgt bei Schüler:innen für eine große Unsicherheit. Und die ganzen technikbasierten Sachen sind im Schulministerium nicht wirklich ein Thema.

Meinst du damit, dass sie dort zu wenig darüber nachdenken, was ihr für Technik in den Schulen braucht?

Ich meine das ein bisschen anders. Wenn ich als Schulleitung für meine Schule mehrere Tablets beantragen möchte, dann muss ich durch ganz viele Bürokratie-Schritte und dann ist nicht einmal garantiert, dass ich diese Tablets bekomme.

Ok. Also sagt ihr: Es ist zu kompliziert für Schulen eine angemessene technische Ausstattung zu erhalten?

Ja, genau. Die Schulleitung muss alles – Stand jetzt – am besten mit einem Konzept beantragen. Dann muss das an die Kommune gehen, dann geht das an das Land, dann schickt das Land den Antrag wieder mit Verbesserungsvorschlägen zurück...und so weiter. Oft kommen die Tablets dann nicht einmal in der Schule an.

Hört ihr als Landesschüler:innenvertretung denn häufig Beschwerden von anderen Jugendlichen zur technischen Ausstattung der Schulen?

Ja, auf den Fall. Ich selbst wohne in Köln. Da sind die Schulen nicht so schlecht ausgestattet, aber in nicht so urbanen Regionen sieht das nicht immer so gut aus. Und es macht auch einen Unterschied auf welcher Schulform man ist. Es gibt eine Umfrage des WDR, für die Schulleitungen angeben sollten, wie sie die Digitalisierung der eigenen Schule einschätzen. Gymnasien und Gesamtschulen bewerteten ihre Ausstattung mit den Noten 3,2 und 3,5 und die Haupt- und Förderschulen vergaben häufig nur eine 4 und schlechter.

Artikelserie "Schule digital II"

Wie sollte die Digitalisierung in unseren Schulen umgesetzt werden? Wie beeinflusst die Coronavirus-Pandemie das Geschehen? Was wurde im Schuljahr 2020/2021 erreicht - wie ging es 2021/2022 weiter? Das möchte unsere Artikelserie beleuchten.

Du bist auf einem Gymnasium. Du erlebst also, dass eure technische Ausstattung ganz in Ordnung ist?

Ich kann mich über unsere Ausstattung wirklich nicht beklagen.

Das ist ja sehr schön. Habt ihr denn bei euch an der Schule viel Distanzunterricht, der dann auch digital stattfindet?

Wir sind in Köln ja momentan bei einer Inzidenz von über 165. Das heißt: Alle außer Abschlussklassen müssen zuhause Digitalunterricht machen. Und unsere Schule kann dann auch tatsächlich sagen: Ja, wir bieten digitalen Distanzunterricht an. Nur die Abschlussklassen sind weiterhin in der Schule.

Wenn wir dann digitalen Unterricht haben, sitzen wir aber auch nicht zwei Stunden am Stück am Laptop, weil unsere Lehrkräfte das nicht gut finden.

Was heißt das genau? Ihr folgt nicht eins zu eins eurem Stundenplan, der sonst im Präsenzunterricht gilt?

Doch. Wir machen unseren Stundenplan. Aber das sieht dann so aus, dass wir uns in den ersten 15 Minuten der 90-minütigen Stunde zu einem Meeting treffen, die Aufgaben besprochen werden und dann arbeitet man sie alleine oder in Gruppen durch. Am Ende der Stunde kommen wir dann nochmal für 15 Minuten zusammen und dann wird gefragt, ob man Probleme hatte, ob noch Hilfe gebraucht wird und manchmal gibt’s dann noch Hausaufgaben.

Könnt ihr euch auch zwischen diesen Meetings an die Lehrkräfte wenden?

Ja. Das ist an unserer Schule wirklich gut. An der Schule einer Freundin sieht das leider ganz anders aus. Sie geht auf eine Hauptschule. Da ist das so, dass die Schüler:innen – meistens montags – einen Berg an Aufgaben per E-Mail zugeschickt bekommen und dann soll man die Aufgaben machen, fotografieren und wieder zurückschicken.

Es ist also überhaupt nicht interaktiv aufgebaut?

Nein. Es gibt sogar teilweise Schulen, da stehen die Schüler:innen gar nicht in Kontakt mit den Lehrkräften. Diese "Klassengesellschaft" unter den Schulen wird jetzt besonders durch Corona offensichtlich.

Wie viel bekommt ihr denn von der Lehrkräfteausbildung mit? Wie lernen eure Lehrerkräfte ihren digitalen Unterricht zu gestalten? Welche Erfahrungen macht ihr?

Wir hören – auch bei der LSVNRW – , dass es da große Unterschiede beim Wissensstand gibt. Man merkt schon, dass manche Lehrkräfte teilweise absolut keine Ahnung haben, was sie da gerade machen sollen, und dann nur auf E-Mails zurückfallen und Fotos von den Aufgaben machen.

Aus meiner Sicht wird Digitalunterricht momentan aber sowieso falsch angegangen.

Wie meinst du das? Was ist aus deiner Sicht falsch.

Viele Lehrer:innen denken – aus meiner Sicht – , dass der Digitalunterricht eins zu eins dem Präsenzunterricht gleichen sollte. Es wird also ganz "normal" eine Gruppenarbeit gemacht. "Los, stellt mal vor." Alles wird wie vorher gemacht.

Dabei denke ich: Wir sind gerade in einer besonderen Zeit und besondere Zeiten erfordern auch besondere Maßnahmen – darin liegen auch viele Chancen. Digitalunterricht kann Schule als Ort verändern.

Was sollte deiner Ansicht nach als Chance begriffen werden?

Wir in der LSVNRW sind grundsätzlich dafür, dass Schule auch etwas sein sollte, wo man auch etwas fürs Leben lernt. Und ich glaube, dass die Digitalisierung in der Schule noch keine große Rolle spielt. Setze ich mich jetzt an meinen PC und mache selbstständig meine Aufgaben, dann ist das eine Selbstständigkeit, die man so in der Schule nicht lernt.

Außerdem ist es total wichtig, dass Schüler:innen schon in der Schule mit häufig benutzten digitalen Programmen arbeiten. Das wird an den Schulen teilweise aber gar nicht vermittelt.

Wie war das denn an deiner Schule vor der Pandemie? Habt ihr zum Beispiel Informatikunterricht oder habt ihr regelmäßig mit technischen Geräten gearbeitet? Habt ihr dort Computerprogramme kennengelernt?

Bei uns gab es Informatik als Wahlpflichtfach. Das konnte man ab der 7. Klasse für zwei Jahre machen. Aber wenn wir mal für den Unterricht an den Computer gegangen sind, dann nur zum Recherchieren, oder um mal eine Power-Point-Präsentation zu machen. Aber dann ist das auch eine Präsentation der einfachsten Art. Da konnte man schon froh sein, wenn Schüler:innen mal eine Animation eingebaut haben. Schlussendlich kann das Programm so viel mehr. Aber das wird uns nicht vermittelt. Stattdessen sitzen wir da und analysieren nur Gedichte. Yeah.

Es wird in der Welt sonst so Vieles digital gemacht. Jetzt könnte die Zeit sein, die Schulen zu reformieren.

Und was ändert sich aus eurer Sicht in dieser Zeit konkret in der Schulpolitik?

Nicht viel. Das sieht man zum Beispiel daran, dass das Schulministerium auch ganz starr am Alten festhält. Die sagen: "zurückkehren zur Normalität". Schlussendlich sollten wir aber nicht das Ziel haben, zurück zur Normalität zu kommen. Die Schule sollte wieder mehr zu diesem Zeitalter passen. Das System Schule, so wie es jetzt ist, ist mehr als hundert Jahre alt. Wenn sich alles weiterentwickelt, wieso ist das System Schule noch so veraltet? Wir reden doch darüber, dass es schon bald fliegende Taxis gibt.

Woran liegt das? Grob gefragt: Könnten Angst und Unwissenheit Gründe sein?

Ich glaube sowohl als auch. Ich sehe zum Beispiel bei unserer Schulministerin sehr viel Realitätsferne. Und ich habe den Eindruck, dass Schule in dieser kapitalistischen Gesellschaft nicht den Stellenwert hat, der oft erklärt wird.

Wir merken in der Schule nicht viel von der Beteuerung "Bildung ist wichtig". Außerdem wird viel zu wenig Wert auf selbstständiges Denken gelegt und ein freier Austausch mit Lehrkräften ist oft auch nicht möglich. Schüler:innen können beispielsweise kaum darauf hinweisen, dass eine Lehrkraft gerade etwas falsch macht – dafür ist alles zu hierarchisch. Da gibt es keinen echten Austausch. Ganz scharf gesagt: Schule ist momentan eine kapitalistische Fabrik, die das Ziel hat Schüler:innen zu willenlosen Marionetten zu erziehen. Selbstbestimmtheit wird auch nicht wirklich geschätzt, im Gegenteil. Die wenigsten Lehrer:innen fordern Schüler:innen aktiv dazu auf selbst und kritisch nachzudenken, viele Schüler:innen trauen sich auch erst gar nicht das zu machen. Aus Angst ihre Note zu riskieren.

Und wenn man sich die Zahlen anschaut, wie viel für Bildung ausgegeben wird und wie viel für einzelne Firmen, dann kann man manchen Sätzen von Politiker:innen einfach nicht glauben.

Wie viel wurde denn nach deinem Empfinden in eure Gesundheit und Sicherheit investiert, um weiterhin im Präsenzunterricht verbleiben zu können?

Es wurde ja erst immer wieder gesagt, dass Schüler:innen nicht die Infektionstreiber wären und dass wir jung sind und absolut gar nichts zu befürchten haben. Aber, bevor wir Schüler:innen sind, sind wir erst einmal Menschen. Menschen, die sich mit diesem Virus anstecken und es weitertragen können. Wir können damit Menschen anstecken, die ein größeres Risiko als wir haben. Und dieser Faktor wird einfach die ganze Zeit miskalkuliert.

Allein schon zu sagen: Es liegt eine Inzidenz über 165 vor, du gehst morgen um 8 Uhr in die Schule und bist neun Stunden da. Ihr habt ja Masken, ihr könnt euch ja testen – das ist einfach nur zynisch.

Bei euch wurden also zum Beispiel keine Luftfilteranlagen eingebaut? Hättest du dich damit sicherer gefühlt?

Das ist bei uns nicht passiert, aber ich hätte mich damit sicherer gefühlt. Wir fordern als LSVNRW deshalb auch deutlich mehr Maßnahmen. Neben den Luftfiltern auch Plexiglasscheiben, Halbierung der Klassen.

Ich sitze zum Beispiel in meinem Leistungskurs immer noch mit 30 Menschen in einem Raum, die von drei verschiedenen Schulen kommen. Ich bin an insgesamt drei Tagen in der Woche je neun Stunden in der Schule. Und wir haben erst kürzlich eine Klausur geschrieben und im anderen LK-Kurs wurde jemand positiv getestet.

Wow. Ich bin erstaunt, dass das überhaupt noch so erlaubt ist.

Ja, ich auch. Ich finde es auch erstaunlich, dass Einzelhändler geschlossen haben, während so etwas in der Schule möglich ist.

Ich bin davon ausgegangen, dass das nicht mehr möglich ist. Das schockiert mich jetzt.

Ich sitze da mit Menschen aus drei verschiedenen Schulen in einem ****** engen Raum und das einzige, das mich schützt, ist eine Maske und zwei Tests in der Woche.

Und ihr bekommt als Schülerinnen und Schüler auch keine Masken von der Schule gestellt, nicht wahr? Das müsst ihr alles selber besorgen?

Genau.

Ich möchte noch einmal auf die technische Ausstattung zu sprechen kommen. Wie sieht das bei dir und anderen Jugendlichen aus? Habt ihr alle ausreichend gute Geräte um digitalen Distanzunterricht machen zu können?

Das war bei uns kein so großes Problem. Unsere Schule hat bei der Stadt relativ viele Geräte beantragt und wir haben auch teilweise Geräte gespendet bekommen. Die reichen zwar auch nicht, aber es konnten wenigstens dreiviertel der Schüler:innen, die ein Gerät brauchten, ausgestattet werden.

Wir haben auch einen Raum für Menschen, die zuhause kein stabiles Internet haben. Die können dann in die Schule kommen und dann von dort aus digital mitmachen. Aber nichtsdestotrotz haben wir immer noch Schüler:innen, die dann sechs Stunden an ihrem Handy hocken. Man kann sich vermutlich vorstellen, was das für eine Belastung ist.

Welche Lernplattform oder Programme nutzt ihr?

Wir nutzen hauptsächlich Microsoft Teams und Microsoft OneNote.

Und hat man mit euch thematisiert, dass es da Datenschutzprobleme geben könnte?

Uns wurde erklärt: Wir nutzen eine Umleitung. Wenn ich das jetzt richtig zusammenbekomme, wird MNS-ProCloud genutzt. Die Firma hat sich vertraglich dazu verpflichtet sich datenschutzkonform zu verhalten und die Daten nur für die von der Schule beauftragten Zwecke zu verwenden.

Ihr benutzt also vor allem MS Teams – und was sonst noch?

OneNote: Da werden unsere Hausaufgaben verteilt und hochgeladen und so etwas. Das ist unser Digital-Set. Es gibt ein paar iOS-Nutzer, die dann auf GoodNote umschwenken müssen. Das ist aber leider kostenpflichtig.

Wie sieht es an anderen Schulen in NRW aus?

Teilweise nutzen die Schulen Logineo, da das die Landeslösung ist. Die ist angeblich nicht so datensicher, weil deren Server von Amazon betrieben werden, und die Plattform bricht halt regelmäßig zusammen.

Fühlst du dich damit wohl, alles mit MS-Teams zu machen? Konnten für dich alle Zweifel ausgeräumt werden?

Technisch hat die App keine Probleme. Aber da kommen wir wieder zum Thema "Schule als System" zurück. Viele Schüler:innen wissen gar nichts zum Thema Datenschutz. Sie wissen zum Beispiel nicht, wie sie mit Bildern anderer Menschen umgehen dürfen. Sie wissen gar nicht, was da auch unter Strafe steht.

Und so etwas lernt ihr bei euch in der Schule auch nicht?

Nein. Urheberrecht, Datenschutz, dass man – wenn man eine Quelle nutzt – dann auch den Link angeben muss, das lernt bei uns keiner in der Schule. Das ist nicht nur an unserer Schule so, sondern auch an vielen anderen.

Unsere Schule arbeitet zwar gerade auch an einem Medienkonzept, das solche Probleme beseitigen soll, aber es ist eben noch nicht da. Was ich auch als großes Problem in meinem Umfeld wahrnehme: Cybermobbing hat sehr stark zugenommen – weil jetzt alles digital stattfindet.

Und wahrscheinlich wird so etwas dann nur in der Schule thematisiert, wenn schon etwas eskaliert ist? Und dann wird gesagt: "Das dürft ihr nicht" und das Problem nicht weiter erklärt?

Jo, genau.

Habt ihr denn an der Schule so etwas wie ein Smartphoneverbot?

Ja, das gab es. Es wurde zum Teil von der Schüler:innenvertretung gekippt. In der Oberstufe sind Smartphones deshalb jetzt wieder erlaubt, von der fünften bis zur neunten Klasse aber nicht.

Ihr könnt ja vielleicht bald geimpft werden, es kann aber sein, dass wir auf die Impfung für Kinder und Jugendliche trotzdem noch etwas länger warten müssen. Wie stellst du dir unter dieser Voraussetzung das kommende Schuljahr vor? Hast du Ängste oder Befürchtungen, nach deinen Erfahrungen aus diesem Schuljahr?

Ich habe ziemlich viel Angst, um ehrlich zu sein. Ich schreibe im kommenden Jahr mein Abitur. Das ist so ein großer Meilenstein, aber das Schulministerium weigert sich die Prüfungen wenigstens ein bisschen anzupassen. Das heißt: Ich muss im kommenden Jahr mit Schüler:innen konkurrieren, deren Eltern vielleicht beide Akademiker sind, die in dieser Extremsituation ein eigenes Zimmer haben, zehn Endgeräte gefühlt, und – da soll ich ein gleichwertiges Abitur ablegen? Ich frage mich einfach, wie das funktionieren soll.

Du bist jetzt in der 11. Klasse oder in der 12.?

In der 11. Wir haben noch G8.

Und es hat noch keiner mit euch darüber gesprochen, ob eurer Abiturzeitraum vielleicht verlängert wird? Ob es für euch vielleicht sogar kurzfristig G9 wird?

Unsere Schule hat teilweise G9, wir sind eine der letzten Klassen, die noch G8 hat. Aber schlussendlich: Ich weiß nicht, ob eine Verlängerung uns etwas nützen würde, wenn es unter diesen Pandemie-Bedingungen so weitergeht.

Was wir wirklich brauchen, ist eine Anpassung der Prüfungen – nämlich zu dezentralen Prüfungen statt dem Zentralabitur. Die Lehrkräfte an unserer Schule wissen, was wir unter den Pandemie-Bedingungen gemacht haben. Bei dezentralen Prüfungen stellen die Lehrkräfte der Schule die Aufgaben, lassen sie vom Schulministerium prüfen, arbeiten Korrekturen ein, und dann ist das sehrwohl ein gleichwertiges Abitur. Viele Schüler:innen verstehen einfach nicht, wieso sich das Ministerium weigert, das umzusetzen.

Und es ist nicht so, als würden wir überhaupt keine Vorschläge für bessere Bedingungen machen. Wir fragen nach einem "Wahlabitur", nach "dezentralen Prüfungen", nach dem freiwilligen Sitzenbleiben, etc, etc...Und das einzige, was das Ministerium bis jetzt ermöglicht hat ist: "Wow, ich habe jetzt eine Wahlmöglichkeit mehr im Abitur" (Anmerkung der Redaktion: Es kann ein zusätzlicher Prüfungsaspekt gewählt werden.)

Also würdest du sagen, dass du in diesem Schuljahr nicht die Leistung erbringen konntest, die du sonst erbracht hättest und dass der Unterricht durch alle Maßnahmen und auch die Dinge, die nicht unternommen wurden, so gestört wurde, dass du dich da nicht gleichwertig fühlst gegenüber anderen Jahrgängen? Oder anders: Empfindest du dieses Schuljahr als nicht vollständig?

Ja, auf jeden Fall. Viele Abiturient:innen haben durch die Wahlmöglichkeit oder ein dezentrales Abi Angst, dass ihr Abiturjahrgang stigmatisiert wird. Aber das ist ja längst passiert. Wenn man sich in zehn Jahren an das Jahr 2020 zurückerinnert, dann wird einem sofort die Coronavirus-Pandemie einfallen. Ich glaube, wir sollten die Abschlüsse nicht über die Gesundheit der Schüler:innen stellen.

Wie gesagt – bevor wir Schüler:innen sind, sind wir Menschen, die Angst haben, sich da draußen eine ****** Infektion zuzuziehen und vielleicht ihre ganze Familie anzustecken.

Man könnte es ja auch andersherum wenden und statt es abzuwerten, sagen: Ihr habt das trotzdem geschafft.

Den Gedankenansatz kann man haben, aber schlussendlich – und da kommen wir auf das kapitalistische System zurück, das unsere Welt prägt – wird sich der Arbeitgeber denken: Das ist ein Corona-Abiturjahrgang. Zu sagen, wir honorieren die Arbeit der Abiturienten von 2020 besonders, ist für mich leider realitätsfern. Es wird einfach anders eingestuft und gehandelt. Wenn ich als Arbeitsgeber:in zwei Arbeitnehmer:innen vor mir sitzen habe, der eine hat eine 1,5 im Abitur, der andere eine 2,9, dann ist mir relativ egal welcher Abiturjahrgang das ist. Die Gesellschaft wird sich nicht großartig darum scheren, was den Schüler:innen widerfahren ist.

Was könnte man an der derzeitigen Situation wenigstens für euch verbessern? Wie sollte das kommende Schuljahr aussehen, damit es etwas besser für euch läuft?

Auf jeden Fall muss man die Benotung für den digitalen Unterricht aussetzen beziehungsweise nicht mehr die Benotung für den digitalen Unterricht anwenden, die man für den Präsenzunterricht genutzt hat. Die ist nämlich zum Beispiel darauf ausgerichtet, wie häufig ich mich im Präsenzunterricht melde, wie ich mich beteilige. Online kann ich mich so aber gar nicht beteiligen. Für den digitalen Unterricht gibt es noch keine Bewertungsgrundlage, die angemessen wäre.

Und es ist auch so: Wir sind es gar nicht gewohnt, so lange vor einem Computer zu sitzen. Unsere Konzentration ist einfach irgendwann komplett weg. Die Lehrkraft kann einen wahnsinnig tollen Vortrag halten, aber wir bekommen dann nichts mehr mit.

Wann fällt es dir und anderen denn besonders schwer dem digitalen Unterricht zu folgen?

Das kommt drauf an und da kommen auch wieder viele Faktoren zusammen. Was macht die Lehrkraft? Welche Rolle spielt dann auch wieder die soziale Ungleichheit zuhause – oder die technische Ausstattung, die Leistung des Internetanschluss. Bei den Schüler:innen kommt nicht immer gleich viel an oder kann gleich gut nachgearbeitet werden.

Wenn der digitale Unterricht dem Präsenzunterricht sehr stark gleicht, ist es aber besonders anstrengend. Es ist in viel zu vielen Köpfen verankert, dass digitaler Unterricht genau dem Präsenzunterricht gleichen sollte. Spätestens vor den Klausuren wird man merken, wenn man die Schüler:innen nochmal abfragt, dass viel mehr Jugendliche weniger mitbekommen haben werden.

Hast du den Eindruck, dass die Leistungsunterschiede sich unter den momentan Bedingungen vergrößert haben?

Die Leistungsstarken Schüler:innen haben sich auch im Distanzunterricht stark beteiligt. Das sind aber die zwei bis drei Schüler:innen, die auch im Präsenzunterricht schon aufgefallen sind. Beim Rest sieht man teilweise Hemmungen. Zum Beispiel auch, wenn es darum geht, die Kamera anzumachen. Man hat keinen Menschen, den man so anblicken kann, wie im Unterrichtsraum. Es ist kein "fester Blick" möglich.

Im Präsenzunterricht führe ich auch dadurch einen Dialog, dass ich meine Lehrerin angucke und dann meine Mitschülerin, aber beim digitalen Distanzunterricht fühlt es sich so an, als würde ich einem Telefonat, einem Monolog zuhören. Man kann die Reaktionen der anderen nicht wirklich sehen. Man bekommt viel weniger gespiegelt, ob das, was man gerade gesagt hat richtig ist oder komplett neben der Spur, weil so viele Reaktionen nicht wahrnehmbar sind.

Also fehlt die direkte Interaktion, die Mimik, der unbeschwerte Austausch. Fühlst du dich denn auch in deiner Privatsphäre gestört, wenn du für den Digitalunterricht die Kamera anmachen musst? Dadurch können ja auch Schüler:innen dein Zuhause sehen, mit denen du dich sonst nicht treffen würdest.

Das ist kein Problem. Das kann man einstellen. Bei den meisten Programmen kann man Hintergründe einstellen oder ihn verwischen. Das ist nicht so ein Drama.

Was ich aber schon mitbekommen habe ist, dass gerade in den jüngeren Jahrgängen in Videokonferenzen Fotos von Mitschüler:innen gemacht wurden und daraus dann Memes entstanden sind.

Ich kenne Schulen, die für so etwas eine Netz-Etiquette eingeführt haben.

Ich mache die Erfahrung, dass viele Lehrer:innen denken, dass angemessenes Verhalten im digitalen Unterricht eine Selbstverständlichkeit ist, aber die meisten Schüler:innen haben dafür noch kein Gefühl oder wissen nicht über Rechte und Pflichten Bescheid. Ich würde das mit Tischmanieren vergleichen. Ich muss auch erst einmal lernen, zwei Stunden ruhig am Tisch zu sitzen. Im Normalfall muss ich das ja nicht. Ich würde eher zwei Stunden Fußball spielen. Es wird aus meiner Sicht da viel zu sehr von Selbstverständlichkeiten ausgegangen, die es so gar nicht gibt.

Würdest du dir denn weiterhin Digitalunterricht wünschen – zum Beispiel auch als Option, wenn Schüler:innen in normalen Schuljahren länger krank sind?

Auf jeden Fall – man sollte das nicht wieder zurückdrehen und nun auch entsprechend den Unterricht reformieren. Die Erwartungen, die an diesen Unterricht gestellt werden, sind momentan nicht richtig. Der Digitalunterricht sollte als eine Art Ergänzung zum Präsenzunterricht gesehen werden. Digitalisierung heißt nicht, dass Präsenzunterricht gleich Digitalunterricht ist, sondern dass ich meine Unterlagen in der Cloud lagern und zusammen vernetzt Sachen bearbeiten kann.

Zum Abschluss. Was sind deine wichtigsten Forderungen für dieses Pandemie-Schuljahr und die kommende Zeit?

Ganz klar: Aussetzung der Unterrichtsbewertung, so wie sie gerade vorgenommen wird, die Dezentralisierung der Abitur-Prüfungen, und dass auf die Gesundheit der Schüler:innen geachtet werden muss.

Artikelserie "Schule digital"

(kbe)