Start-ups vs. Marktführer: Mehr KI soll autonome Autos auf die Straße bringen

Selbstfahrende Fahrzeuge werden seit langem entwickelt, doch der große Durchbruch scheint nicht zu kommen. Ist die Lösung noch mehr KI?

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(Bild: Jamiel Law)

Lesezeit: 12 Min.
Von
  • Will Douglas Heaven
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Vier Jahre ist es her, dass Alex Kendall in seinem Auto auf einer kleinen Straße in der britischen Provinz unterwegs war und plötzlich die Hände vom Lenkrad nahm. Das Fahrzeug, das mit ein paar billigen Kameras und einem massiven neuronalen Netzwerk zur KI-Steuerung ausgestattet war, neigte sich zur Seite. Als er dies spürte, griff Kendall für ein paar Sekunden ins Lenkrad, um zu korrigieren. Das Auto wich erneut aus; Kendall korrigierte wieder. Es dauerte weniger als 20 Minuten, bis das Auto von selbst lernte, auf der Straße zu bleiben, sagt er.

Dies war das erste Mal, dass das sogenannte Verstärkungslernen – eine KI-Technik, bei der ein neuronales Netzwerk durch Versuch und Irrtum auf eine bestimmte Aufgabe trainiert wird – eingesetzt wurde, um einem Auto das Fahren auf einer echten Straße von Grund auf neu beizubringen. Es war ein kleiner Schritt in eine neue Richtung – einer, von der eine neue Generation von Start-ups glaubt, dass sie der Durchbruch sein könnte, der fahrerlose Autos zur täglichen Realität macht.

Das auch Reinforcement Learning genannte Verfahren hat enorme Erfolge bei der Entwicklung von KI-Systemen erzielt, die mit übermenschlichem Geschick Spiele am Computer oder auf dem Brett – wie etwa Go – beherrschen; es wurde sogar schon zur Steuerung eines Kernfusionsreaktors eingesetzt. Aber Autofahren galt als zu kompliziert. "Wir wurden ausgelacht", sagt Kendall, Gründer und CEO des britischen Unternehmens Wayve, das fahrerlose Systeme herstellt.

Wayve trainiert seine Autos jetzt im Londoner Berufsverkehr. Voriges Jahr hat das Unternehmen gezeigt, dass es ein auf Straßen der britischen Hauptstadt erlerntes Fahren in fünf verschiedenen Städten – Cambridge, Coventry, Leeds, Liverpool und Manchester – ohne zusätzliches Training anwenden konnte. Das ist etwas, womit sich Branchenführer wie Cruise (General Motors) und Waymo (Google) schwergetan haben. Im Mai gab Wayve nun bekannt, dass es mit Microsoft zusammenarbeitet, um sein neuronales Netzwerk auf Azure, dem cloudbasierten Supercomputer des Tech-Riesen, zu trainieren.

Investoren haben schon mehr als 100 Milliarden US-Dollar in den Bau von selbstfahrenden Autos gesteckt. Das ist ein Drittel dessen, was die NASA ausgegeben hat, um Menschen auf den Mond zu bringen. Doch trotz jahrzehntelanger Entwicklungsarbeit und unzähligen Kilometern auf der Straße steckt die fahrerlose Technologie noch in der Pilotphase fest. "Wir sehen außerordentlich hohe Ausgaben für sehr begrenzte Ergebnisse", sagt Kendall.

Aus diesem Grund setzen Wayve und andere Start-ups für autonome Fahrzeuge – wie Waabi und Ghost, beide in den USA, sowie Autobrains aus Israel – voll auf KI. Sie bezeichnen sich selbst als "AV2.0" ("Autonomous Vehicle, version 2") und setzen darauf, dass sie mit intelligenterer und billigerer Technologie die derzeitigen Marktführer überholen können.

Wayve will nach eigenen Angaben das erste Unternehmen sein, das fahrerlose Autos in 100 Städten einsetzt. Aber ist das nur ein weiterer Hype einer Branche, die sich schon seit Jahren an ihrem eigenen Angebot berauscht? "In diesem Bereich wird viel zu viel verkauft", sagt Raquel Urtasun, die vier Jahre lang das Team für selbstfahrende Autos bei Uber leitete, bevor sie 2021 Waabi gründete. "Es wird auch nicht erkannt, wie schwierig die Aufgabe überhaupt ist. Aber ich glaube nicht, dass der Mainstream-Ansatz für selbstfahrende Autos uns dorthin bringen wird, wo wir sein müssen, um die Technologie sicher einzusetzen."

Dieser Mainstream-Ansatz geht mindestens auf das Jahr 2007 und die DARPA Urban Challenge zurück, als es sechs Forscherteams gelang, ihre Roboterfahrzeuge durch eine Kleinstadtattrappe auf einem stillgelegten US-Luftwaffenstützpunkt zu navigieren. Die Techniken von Waymo und Cruise wurden auf der Grundlage dieses Erfolges auf den Markt gebracht, und der von den Siegerteams verfolgte Robotikansatz hat sich durchgesetzt. Dabei werden Wahrnehmung der Fahrzeuge, Entscheidungsfindung und Steuerung als unterschiedliche Probleme behandelt, für die es jeweils unterschiedliche Module gibt. Dies kann jedoch dazu führen, dass das Gesamtsystem schwer zu entwickeln und zu warten ist – und dass Fehler in einem Modul auf andere übergreifen, sagt Urtasun. "Wir brauchen eine KI-Denkweise, keine Robotik-Denkweise", sagt sie.

Das ist die neue Idee. Anstatt ein System mit mehreren neuronalen Netzen zu bauen und diese von Hand miteinander zu "verdrahten", bauen Wayve, Waabi und andere jeweils ein massives neuronales Netzwerk, das die Details für sich selbst herausfindet. Wenn man der KI genügend Daten zur Verfügung stellt, lernt sie, die "Eingaben" (Kamera- oder Lidar-Daten der Straße) in "Ausgaben" umzuwandeln (das Gas geben, lenken oder auf die Bremse treten) – ähnlich wie ein Kind, das Fahrradfahren lernt.

Dieser direkte Übergang von der Eingabe zur Ausgabe wird als End-to-End-Lernen bezeichnet und entspricht dem, was GPT-3 für die Verarbeitung natürlicher Sprachen und AlphaZero für Go und Schach getan hat. "In den letzten 10 Jahren wurden dadurch viele scheinbar unlösbare Probleme geknackt", sagt Kendall. "End-to-End-Lernen hat uns übermenschliche Fähigkeiten verschafft. Beim Autofahren wird es nicht anders sein."

Wie Wayve nutzt auch Waabi das Ende-zu-Ende-Lernen. Allerdings verwendet es (noch) keine echten Fahrzeuge. Es entwickelt seine KI fast vollständig in einer superrealistischen Fahrsimulation, die ihrerseits von einem "KI-Fahrlehrer" gesteuert wird. Ghost verfolgt ebenfalls einen KI-first-Ansatz und entwickelt eine fahrerlose Technologie, die nicht nur auf Straßen navigieren kann, sondern auch lernt, auf andere Fahrer zu reagieren. Autobrains setzt ebenfalls auf einen End-to-End-Ansatz, geht dabei aber etwas anders vor. Anstatt ein großes neuronales Netz zu trainieren, das alle möglichen Probleme eines Autos lösen kann, werden viele kleinere Netze – genauer gesagt Hunderttausende – trainiert, um jeweils ein ganz bestimmtes Szenario zu bewältigen.

"Wir übersetzen das schwierige AV-Problem in Hunderttausende von kleineren KI-Problemen", sagt Igal Raichelgauz, der CEO des Unternehmens. Die Verwendung eines einzigen großen Modells macht das Problem komplexer, als es tatsächlich ist, sagt er: "Wenn ich Auto fahre, versuche ich nicht, jeden Bildpunkt auf der Straße zu verstehen. Es geht darum, kontextbezogene Hinweise zu extrahieren."