Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 2

Seite 8: 2.8 Umwege

Inhaltsverzeichnis

"Ich hole die Tasche zurück", sprang Pinja auf und wollte die Türe aufreißen und den beiden Männern folgen als Lisa in ungewohnt scharfem Ton befahl: "Bleib sitzen!" Der Zug fuhr langsam an und sie sahen die beiden Männer auf dem Bahnsteig in aller Ruhe Richtung Ausgang laufen. "Ich gehe ihnen nach, ich gebe nicht auf. Ich springe aus dem fahrenden Zug", sagte Pinja jetzt weinend. Die Tasche? Wieso? Sie hatte vor weniger als zehn Minuten das Geld abgehoben. So schnell konnten die einfach nicht sein. "Die Türen öffnen sich nicht mehr, wenn der Zug fährt. Und lass die Notbremse in Ruhe", beruhigte Lisa sie wieder. "Dieser Panettone hat keine zehn Schweizer Franken gekostet. Dafür riskiert mir hier keiner sein Leben."

Ungläubig sahen sie alle an. "Ich dachte die Plastiktüten vom Einkauf sind besser für das Paket, falls es anfängt zu regnen. Da habe ich einen der beiden Panettone in die Stofftasche und das Paket in dessen Plastiktüte gemacht. Die Männer müssen uns aus dem Krankenhaus fliehen gesehen haben, als wir nur die Stofftasche hatten."

Pinja heulte noch lauter und fiel Lisa um den Hals. "Du unsensibles Ding! Du Ignorantin! Die wertvollste Substanz der Erde in eine Plastiktüte zu packen! Du... Du... lass dich umarmen", lachte und weinte sie gleichzeitig. Und als sie sich ein wenig erholt und die Umarmung gelöst hatte, fügte sie schon wieder nüchtern analysierend hinzu: "Jetzt lasst uns hoffen, dass sie den Fehler nicht bemerken, bevor wir an der nächsten Station sind. In Morges müssen wir raus."

Frank griff nach der anderen Plastiktüte, weil er immer noch nicht wusste, ob er sich noch übergeben muss. Mit einer Hand hielt er die Tüte, mit der anderen wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er war es gewohnt in einem ruhigen Büro zu arbeiten. Das aufregendste war bisher ein Virenbefall auf einem Rechner im Unternehmen, den er binnen zwei Stunden behoben hatte. Und jetzt sah er immer noch vor seinem geistigen Auge, wie ein Mann einen Meter vor seinem Kopf Pinja das Gehirn mit einer Pistole rauspustete. Immer und immer wieder fiel in seinem Kopf der Schuss, der in Wirklichkeit nie gefallen war.

"Wo müssen wir denn hin?", fragte Lisa. Pinja sah sie nachdenklich an. Das war wirklich eine gute Frage. "Letztendlich muss das Paket natürlich nach Kourou, um in den Weltraum zu kommen", fing sie zögerlich an. "Unser Zugticket geht nach Paris zur Zentrale der ESA. Dort sitzen die Leute, die von der Herstellung der Higgsbi-Materie wissen und das Projekt für die ESA organisieren. Ich dachte, die könnten uns vielleicht schützen und einen sicheren Flug nach Kourou organisieren. "Das Problem ist nur..." "Das Problem ist...?", forderte sie Lisa auf weiterzureden. "Das Problem ist, dass die das inzwischen auch wissen. Wir werden es nicht bis Paris schaffen. Wir müssen unsichtbar werden, bevor sich Higgsbi als Panettone herausstellt. Vielleicht ist es besser, wenn wir nach Köln fahren. Dort werden die Astronauten für die ESA trainiert. Das Team weiß zumindest über die Mission Bescheid. Die Frage ist nur wie?"

"Fliegen fällt weg ohne Ausweise", sagte Lisa. Also Zug oder Auto." "Ich weiß nicht, ob ich nochmal in meinem Leben in einen Zug steige", sagte der immer noch bleiche Frank. "Auto ist eh besser", meinte Pinja, das lässt sich schwerer nachverfolgen als der Kauf eines Zugtickets. Inzwischen müssen wir davon ausgehen, dass die ihre Finger überall drin haben." "Wenn die überall ihre Finger drin haben, dann kommen die auch an die Tracking-Daten von autonomen Mietwagen. Dann wissen die auf 5 m genau, wo wir sind", sagte Frank etwas gereizt. "Auch wieder wahr", sagte Pinja und setzte fort: "Dann nehmen wir eben wieder die Fahrräder, das hat ja im LHC schon recht gut geklappt."

Lisa und Frank sahen sie mit großen Augen an. 700 km sind auch für ein E-Bike eine stattliche Strecke. "Das ist jetzt ein Witz", sagte Frank deutlich irritiert, dass man kurz nach überstandenen Todesängsten schon wieder zu Witzen aufgelegt sein konnte. "Eigentlich ja", meinte Pinja nachdenklich, "aber wenn ich genauer darüber nachdenke...wir könnten tatsächlich drei Fahrräder leihen und mit ihnen bis Lausanne fahren. Dort tauchen wir unter für eine Nacht und besorgen uns morgen früh ein Auto. Die Frage ist nur, wie wir an eines kommen, das nicht so leicht getrackt werden kann." Sie sah wieder Lisa an und ihrem Blick war schon die Frage abzulesen, ob sie nicht doch einen Wagen stehlen konnte. Noch bevor Lisa den Kopf schütteln konnte, sagte Frank: "Das Auto besorge ich." Beide sahen ihn ungläubig an. "Der Informatiker wird jetzt zum Autoknacker?", fragte Lisa. "Nein. Ich frage meinen Doktorvater in Lausanne. Der war schon immer ein Freak und hat sicher ein vollautonomes Auto, das auch das Aufladen selbstständig übernimmt. Das fährt uns nach Köln und leer wieder zurück bis vor seine Haustür. Als du Lausanne gesagt hast, fielen bei mir die Bits in ihre Bytes." "Fielen was?", fragte Pinja. "Vergiss es", lächelte Frank.