Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 2

Zwischen Teilchenphysik, Weltraumreise und Kriminalfall - eine Geschichte aus der Zukunft, der zweite von fünf Teilen in täglicher Folge.

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Story: Higgsbi. Ein neues Zeitalter. Kapitel 2
Lesezeit: 82 Min.
Von
  • Klaus Dorer
Inhaltsverzeichnis
Higgsbi

Zwischen Teilchenphysik, Weltraumreise und Kriminalfall - eine Geschichte aus der Zukunft. Es ist noch nicht lange her, dass in praktisch jeder Tageszeitung ein Fortsetzungsroman die Leser in andere Bereiche jenseits des in der Zeitung beschriebenen Alltags entführte. Etwas Ähnliches bringen wir auf heise online: eine Story jenseits des alltäglichen News- und Technik-Geschehens, in fünf Teilen, an fünf Tagen.

Wer zu den Sternen reist, sollte die Sterne sehr gut kennen. Denn selbst wenn man das große Glück hat, unterwegs intelligente Wesen zu treffen, ist es schwierig, sie nach dem Heimweg zu fragen.

Ein Roman von Klaus Dorer

Klaus Dorer ist Professor für Informatik an der Hochschule Offenburg. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und wohnt im Schwarzwald. Das Buch entstand zwischen 2013 und 2019 in den Sommerurlauben in Italien.

Tom kniete sich langsam nieder und zeichnete zwei Menschen in den Sand, sich und Iris. Er hatte in seiner Aufregung längst seinen Vorsatz vergessen, sich dumm zu stellen. Über einen malte er sein Symbol, über den anderen schrieb er den Namen Iris. Dann zeigte er auf den zweiten und sah Eva fragend an. Doch Eva schien nicht zu verstehen. Sie drehte nur immer wieder ihren Kopf zur offenen Tür. Schließlich zeigte sie das gemalte Bild nur mit Tom, ohne Iris. Tom zeigte noch einmal auf sich, dann auf die Figur im Sand, die ihn darstellte, dann auf die andere Figur und deutete in der Luft eine zweite Person an. Evas Visual wurde grün, was Tom aber noch nicht als Frage verstand, zeigte aber immer noch nur einen Menschen. Tom zeichnete unter sich noch einen Tropfen für die Eins und dann unter Iris den Halbkreis für die Zwei. Das musste sie aber jetzt verstehen. Evas Visual wurde gelblich, doch sie verwischte die Zeichnung, ging langsam rückwärts zur Tür und verschwand.

Toms Aufregung legte sich nur langsam. Er hatte endlich Kontakt zu den Außerirdischen und konnte sie dank des Visuals problemlos verstehen. Nur sie verstanden ihn noch nicht. Er hatte so viele Fragen. Was war jetzt mit Iris? Eva schien nicht zu verstehen, oder, wenn sie ihn verstand, nichts von Iris zu wissen. Hatte sie es nicht geschafft? Wie waren sie überhaupt in der Lage, ihn auf ihren Planeten zu holen? Welche Technik, welche Physik steckte dahinter? Eins stand fest: mit dem Schreiben in Sand würde es nie gelingen, Antworten auf diese Fragen zu erhalten. Also entweder sie lernten seine Sprache, oder er brauchte Papier und einen Stift. Und auch das wäre immer noch um Größenordnungen langsamer, als dieses fantastische Visual der Ivenils.

heise online: Welten / Die c't Stories

heise online und c't werfen mit zwei Science-Fiction-Buchreihen nicht nur einen Blick in die Zukunft. Mit den Reihen "heise online: Welten" und den "c't Stories" wollen wir auch den Blick dafür schärfen, wie Digitalisierung die Welt verändert. Die Bücher sind im d.Punkt-Verlag erhältlich.

Tom nahm einen Stein und versuchte, ein Bild in die Holzwand zu ritzen. Das war noch langsamer, als in den Sand zu schreiben. Er brach sich einen kleinen Zweig ab und ritzte mit der spitzen Seite Zeichen auf die Oberseite eines großen Blatts. Das Ergebnis war ein kaum lesbares Gekritzel, das ihn auch nicht weiter bringen würde. Er musste also zunächst beim Sand bleiben. Beim nächsten Morgengrauen ging wieder die Tür auf und Eva kam zu ihm. In der rechten Hand war nach wie vor ihr Stock in Einsatzbereitschaft. Sie ging unerschrocken auf ihn zu und zeigte auf ihrem gelben Visual Toms Name. Tom lächelte, doch Eva ging einen Schritt zurück. Beim Lächeln wurden Toms Zähne sichtbar, was Eva zunächst als kein gutes Zeichen wertete. Tom hob beschwichtigend die Hände, was ebenfalls nicht zur Entschärfung der Situation beitrug, weil das die Angriffsstellung der Ivenils war. Erst als Tom einen Schritt rückwärts ging und das Kleeblatt in den Sand zeichnete, kam Eva wieder etwas näher.

Tom überlegte kurz und zeichnete schließlich die Sonne und die Erde, die um die Sonne kreist. Auf der Erde zeichnete er zwei Menschen, Tom und Iris. Dann malte er daneben noch eine Sonne und einen Planeten mit Tom und Eva und eine Flugbahn von Tom auf der Erde zu Tom auf Iven, dem anderen Planeten. Schließlich noch einen Pfeil von Iris ausgehend, der zwischen den Planeten endete. Er fand, dass er mit diesem Bild seine beiden dringlichsten Fragen zusammengefasst hatte: wo war Iris und wie war es möglich, dass er auf einen anderen Planeten gelangt war? Natürlich war ihm klar, dass er damit auch verriet, dass er eine Ahnung davon hatte, dass Planeten um Sonnen kreisten und dass andere Sterne auch Sonnen mit Planeten waren.

Tom sah auf Evas Visual seine Zeichnung. Sie fügte eine Art Raumschiff dazu, das von der Erde mit Tom zu den Ivenils flog. Dann kam noch eine dritte Sonne mit einem Planeten zum Bild dazu und das Raumschiff flog dorthin weiter ohne Tom. Iris war die ganze Zeit auf der Erde visualisiert. Hatten sie nur ihn von der ESS mitgenommen? Tatsächlich konnte er sich bei genauerem Überlegen an nichts erinnern, das dagegen sprechen würde. Erleichterung machte sich breit. Große Erleichterung. Er konnte sich jetzt auf sich und seine zweite große Frage konzentrieren. Je mehr er über die Zeichnung von Eva nachdachte, desto besorgter wurde er allerdings. Er nahm den Stift und zeichnete die drei Sonnensysteme mit dem Raumschiff, jetzt aber mit einer Bahn vom dritten Planeten zur Erde und einem Fragezeichen. Er wollte wissen, ob das Raumschiff von einem anderen Planeten stammte. Bisher hatte er die Ivenils vor allem deshalb als sehr weit fortgeschrittene Spezies eingeordnet, weil sie eine Technologie hatten, die Menschen auf andere Planeten bringen konnte und vielleicht wegen des Visuals. Das Bild schien aber eher zu erzählen, dass Wesen von einem anderen Planeten Raumschiffe mit dieser Technologie hatten und er von diesen hierher gebracht worden war. Tom malte noch ein Bild, auf dem ein Raumschiff ihn zurück zur Erde brachte. Aber Evas Visual blieb schwarz. Sie verwischte den Sand, ging eilig zurück und schloss die Tür.

Am nächsten Tag kam Eva erneut morgens in aller Frühe zu ihm. Tom wollte jetzt wissen, wie fortschrittlich die Ivenils tatsächlich waren. Er fing mit Zahlen an. Anfangs fiel es ihm schwer, alles im Vierersystem der Ivenils auszudrücken. Aber im Laufe des gestrigen Tages, als er sich die nächste Sitzung mit Eva zurechtgelegt hatte, hatte er sich daran gewöhnt und fing an, in diesem System zu denken. Eva war von Anfang an beeindruckt, dass dieses fremde Wesen Zahlen kannte. Als Tom die Zahl Pi als 3,0210 (also im Vierersystem) aufschrieb, kannte ihre Begeisterung kaum noch Grenzen und Tom verstand jetzt auch das Gelb in ihrem Visual. Je weiter er aber fortfuhr, desto mehr verstand er auch das immer häufiger auftretende, fragende Grün im Visual. Reelle Zahlen: Grün. Trigonometrie: Grün. Algebra: Grün. Tatsächlich kannte Eva auch Pi nicht. Sie war begeistert, weil Tom die Zahl drei als Summe von zwei und eins darstellen konnte: 3,0210 hatte sie so gedeutet. Toms anfängliche Motivation, seine Situation zu ertragen, indem er neues Wissen einer hochtechnologisierten fremden Zivilisation erlangte, wich einer zunehmenden Enttäuschung, dass er in der Zelle von Wesen war, deren Mathematik hinter dem blieb, was jeder Teenager auf der Erde in der Schule lernte. Die eigentliche Enttäuschung wuchs aber in der zunehmenden Erkenntnis, dass er mit oder ohne Hilfe der Ivenils nicht zur Erde zurückkehren würde.

Plötzlich zuckte Eva zusammen. Sie verwischte rasch den Sand, ging eilig zur Tür und verschloss sie vorsichtig. Den abgelegten Stock hatte sie in ihrer Eile neben der Tür liegen gelassen. Tom wollte ihn zunächst an die Tür stellen, doch irgendetwas hielt ihn davon ab. Stattdessen legte er ihn unter einen Busch von Blättern und dachte über das überhastete Verschwinden von Eva nach. Jedes Mal verwischte sie alle Spuren ihrer Kommunikation im Sand. Jedes Mal kam sie im ersten Morgengrauen und blieb die ersten beiden Male nur wenige Minuten, dieses Mal aber über eine Stunde. Konnte es sein, dass Eva heimlich zu ihm kam? War sie erschrocken, als sie merkte, dass sie in ihrer Begeisterung die Zeit vergessen hatte? Tom überlegte, wie er sie das am nächsten Morgen fragen konnte. Aber Eva kam am nächsten Morgen nicht mehr.