Ukraine-Krieg: Wie Russland sich seine Tech-Industrie zerstört

Seite 3: Die Anfänge des RuNet

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VKontakte, das oft als das russische Facebook bezeichnet wird, wurde "de facto verstaatlicht", nachdem sein Gründer, Pavel Durov, 2014 aus dem Unternehmen gedrängt wurde und Oligarchen, die dem Kreml nahestehen, die Kontrolle übernahmen, erzählt Enikolopov. Nach seiner Flucht aus dem Land bezeichnete Durov, der später die beliebte Messaging-App Telegram gründete, Russland als "inkompatibel zum Internetgeschäft". Laut einer Studie der National Research University Higher School of Economics verlassen Gründer von "Einhorn"-Start-ups – also jenen mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar – kein Land häufiger als Russland.

Die russische Regierung dachte, sie müsse alles kontrollieren, sagt Enikolopov: "Man konnte die Tech-Unternehmen nicht alleine lassen." Nach der Annexion der Krim 2014 gab es erste internationale Sanktionen gegen Russland. Der Kreml begann daher, die Idee eines eigenen souveränen russischen Internets, das RuNet, zu fördern. Der Krieg gegen die Ukraine und die daraus resultierenden noch stärkeren Sanktionen haben dem Konzept neues Leben eingehaucht. Im März 2022 sperrte der Kreml zunächst den Zugang zu ausländischen Social-Media-Plattformen wie Instagram, Facebook und Twitter, eine Maßnahme, die dazu beitrug, die Russen in einer kontrollierten Informationsblase zu halten.

Das Land arbeitet zudem daran, die beliebten internationalen Websites durch inländische Versionen zu ersetzen. Um Google Play und den Apple App Store zu unterminieren, hat VK zusammen mit dem Ministerium für digitale Entwicklung einen inländischen App-Laden namens RuStore eingerichtet. TikTok, Instagram und YouTube haben lokale Klone wie Yappy, Rossgram und RuTube bekommen. Laut Tech-Arbeiter Igor wird Yandex News künftig dazu beitragen, die staatliche Kontrolle über die Inhalte, die russische Nutzer lesen können, zu konsolidieren und schließlich mit anderen VK-Nachrichtenprodukten verschmelzen.

"Der Hauptfokus von VK ist die Verbreitung von Propaganda", sagt Igor und fügt hinzu, dass dieses Ziel erreicht wird, indem die Aufmerksamkeit der russischen Nutzer auf russische Dienste gelenkt wird. (VK reagierte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.) Die Kontrolle von Online-Inhalten ist nicht das einzige Mittel, mit dem Russland seine digitale Souveränität ausüben will. Nach der Verhängung von Sanktionen im letzten Jahr hat der Staat begonnen, das Ziel des Aufbaus eines kompletten, in sich geschlossenen Tech-Ökosystems zu propagieren, das alle Dienstleistungen von der Finanzierung bis hin zu Hardware und Lieferketten umfasst.

Die russische Regierung hat dazu "beispiellose Mittel" für die Technikindustrie versprochen, die sich bis 2030 auf mehr als 3,19 Billionen Rubel (41,2 Milliarden US-Dollar) belaufen sollen. Doch der Aufbau des Sektors wird eine schwierige Aufholjagd: Selbst nach Schätzungen der Regierung liegt etwa die russische Chipindustrie 10 bis 15 Jahre hinter dem Rest der Welt zurück. Vor den Sanktionen importierte Russland jährlich Hightech-Güter im Wert von etwa 19 Milliarden Dollar, wobei der größte Teil dieser Importe (66 Prozent) aus der EU und den USA stammte, so die Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Experten wie Heli Simola von der Bank of Finland schätzen, dass die Einfuhren von Technologiegütern seit dem letzten Jahr um 30 Prozent zurückgegangen sind.

"Russland ist in vielerlei Hinsicht keine sonderlich hoch entwickelte Wirtschaft, was bedeutet, dass es nicht viele Hightech-Industrien gibt", sagt auch Niclas Poitiers, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Bruegel. "In vielen Sektoren ist die Industrieproduktion stark zurückgegangen."

Aufgrund der Handelsbeschränkungen hat Russland auch den direkten Zugang zu Produkten vieler führender Unternehmen verloren, darunter Cisco, SAP, Oracle, IBM, TSMC, Nokia, Ericsson und Samsung. Poitiers meint, dass Russlands Versuch, Technologieunternehmen ohne konventionellen internationalen Austausch im Alleingang aufzubauen, wie ein Rückfall in die Zeit der Sowjetunion wirkt. Das heutige Russland verlässt sich daher eher auf den Chip-Schmuggel über Drittländer sowie Partner wie China. "Das Wissen ist nicht mehr vorhanden. Es gibt kein Humankapital", sagt er.

Schon lange vor dem Einmarsch in der Ukraine bemühte sich die russische Regierung, ihr Tech-Ökosystem mit speziellen Projekten zu stärken. Eines davon war "Rosnano", ein staatliches Nanotechnologieunternehmen, dessen Auflösung die Regierung jetzt jedoch in Erwägung zieht. Das bedeutendste Projekt dieser Reihe war jedoch "Skolkovo", eine Art Hightech-Zentrum, das zu einem russischen Silicon Valley werden sollte.

Selbst in normalen Zeiten hatten solche Vorhaben Schwierigkeiten, sagt Adrien Henni, Risikokapitalgeber und Mitbegründer der Website East-West Digital News. "Es gab schon einige lobenswerte Bemühungen", sagt Henni. "Aber diese Dinge wurden durch Korruption und Ineffizienz behindert – und, noch allgemeiner ausgedrückt, durch die Tatsache, dass sich das Regime insgesamt nicht mehr darum gekümmert hat."

Skolkovo, das 2010 eröffnet wurde, war Teil eines Modernisierungsprogramms, das vom damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew initiiert wurde, der sich einst als junger, digital versierter und westlich orientierter Technokrat präsentierte. Der Ort Skolkovo liegt im Südwesten Moskaus, weniger als 30 Autominuten vom Kreml entfernt und sieht aus wie ein schicker Technologiepark irgendwo auf der Welt. Der Traum sah vor, dass es zu einer Startrampe für Russlands Tech-Unternehmer werden würde, die Zuschüsse, gebildete Mitarbeiter und Büroräume brauchen.

Dabei kam es zu einer steilen Lernkurve. "Das Wort 'Startup' gab es in der russischen Sprache überhaupt nicht", sagt Alexey Sitnikov, Vizepräsident für Kommunikation und Entwicklung der zum Projekt gehörenden Universität, dem Skolkovo Institute of Science and Technology, bekannt als Skoltech.