Ukraine-Krieg: Wie Russland sich seine Tech-Industrie zerstört

Russlands Krieg gegen die Ukraine beschleunigt den Niedergang einer ohnehin angeschlagenen Branche. Einstige Erfolgsgeschichten? Ausgebremst. Beispiel: Yandex.

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(Bild: Maxim Gaigul/Shutterstock.com)

Lesezeit: 22 Min.
Von
  • Masha Borak
Inhaltsverzeichnis

Sieben Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine packte Wladimir Belugin die Sachen seiner Familie ein, kündigte den Mietvertrag für die Wohnung in Moskau, nahm seine Kinder aus dem Kindergarten und startete ein neues Leben außerhalb seiner Heimat. Wenig später kündigte er dann auch noch seinen Posten als Chief Commercial Officer für kleine und mittlere Unternehmen bei Yandex, dem russischen Pendant zu Google. Die Firma gilt als wichtigste Tech-Firma im Land.

Der Krieg bedeute, dass sich in Russland alles ändern werde, sowohl für ihn als auch für sein Unternehmen, sagte Belugin von seinem neuen Zuhause in Zypern aus: "Man muss diese neuen Regeln akzeptieren, weil es in Russland letztlich überhaupt keine Regeln mehr gibt."

Belugin war bei weitem nicht der einzige Tech-Mitarbeiter, der das Land verließ. In den Monaten nach Beginn der Invasion kam es in Russland zu einem Massenexodus von IT-Experten. Nach Angaben der Regierung verließen im Jahr 2022 rund 100.000 Digital-Spezialisten Russland, das sind etwa 10 Prozent der Beschäftigten im technischen Bereich – eine Zahl, die wahrscheinlich eher klein gerechnet wurde. Parallel zu diesen Abgängen schränkten mehr als 1.000 ausländische Unternehmen ihre Tätigkeit in Russland ein, was zum Teil auf die wohl umfassendsten Sanktionen zurückzuführen war, die jemals gegen eine große Volkswirtschaft verhängt wurden.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist nun über ein Jahr vergangen. Es wurden mehr als 8.300 zivile Todesopfer gezählt. Die Tech-Arbeiter, die alles hinter sich gelassen haben, um aus Russland zu fliehen, warnen davor, dass das Land auf dem besten Weg ist, eine Art Dorf zu werden: abgeschnitten von der globalen Tech-Industrie, von Forschung, Finanzierung, dem wissenschaftlichen Austausch und wichtigen technischen Komponenten. Inzwischen hat Yandex, einer der größten Digitalerfolge des Landes, begonnen, sich zu zerfasern und verkauft lukrative Geschäftsbereiche an VKontakte (VK), einen Konkurrenten, der von staatlichen Unternehmen kontrolliert wird.

"Ich hatte das Gefühl, dass mir mein Land gestohlen wurde", sagt Igor, leitender Angestellter von VK, der noch Familie in Russland hat und deshalb darum bat, seinen Namen zu ändern, damit er offen sprechen kann. Als der Krieg begann, so sagt er, hatte er das Gefühl, dass ihm 20 Jahre der Zukunft Russlands auf einen Schlag weggenommen wurden.

Im Land war zuvor der Tech-Sektor einer der wenigen Bereiche, in dem die Menschen das Gefühl hatten, dass sie aufgrund ihrer Fähigkeiten und nicht nur aufgrund ihrer Beziehungen erfolgreich sein konnten. Außerdem herrschte in der Branche ein Geist von Offenheit: Russische Unternehmer warben internationale Finanzmittel ein und schlossen Geschäfte in der ganzen Welt ab. Eine Zeit lang schien selbst der Kreml diese Offenheit zu begrüßen und lud internationale Unternehmen ein, in Russland zu investieren.

Doch schon lange vor dem Krieg zeigten sich erste Risse in der russischen Technologiebranche. Seit mehr als einem Jahrzehnt versucht die Regierung, Russlands Internet und seine mächtigsten Tech-Unternehmen in die Schranken zu weisen – und bedroht damit eine Branche, die einst versprach, das Land in die Zukunft zu führen. Experten, mit denen MIT Technology Review sprechen konnte, sagen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine den Schaden, der bereits angerichtet wurde, noch beschleunigte. Die größten Tech-Unternehmen des Landes seien weiter in die Isolation und ins Chaos getrieben worden. Die Bürger wiederum wurden in das streng kontrollierte heimische Internet eingesperrt, in dem Nachrichten von offiziellen Regierungsquellen stammen und die freie Meinungsäußerung stark eingeschränkt ist.

"Die russische Führung hat sich für einen völlig anderen Weg der Entwicklung des Landes entschieden", sagt Ruben Enikolopov, Assistenzprofessor an der Barcelona School of Economics und ehemaliger Rektor der russischen New Economic School. Die Isolation wurde zu einer strategischen Entscheidung, sagt er.

Die Technologiebranche sei zwar nicht die größte Branche Russlands, aber eine der wichtigsten Triebkräfte der Wirtschaft, so Enikolopov. Zwischen 2015 und 2021 war der IT-Sektor in Russland für mehr als ein Drittel des BIP-Wachstums verantwortlich und erreichte im Jahr 2021 3,7 Billionen Rubel (47,8 Milliarden US-Dollar). Obwohl dies nur 3,2 Prozent des gesamten BIP ausmachte, glaubt Enikolopov, dass Russlands Wirtschaft stagnieren wird, wenn die Technologiebranche ins Hintertreffen gerät. "Ich denke, dies ist wahrscheinlich einer der größten Schläge für das zukünftige Wirtschaftswachstum in Russland."

Am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem die russische Invasion in der Ukraine begann, war die Stimmung in dem mit roten Steinen und Glas verkleideten Yandex-Büro im Süden Moskaus angespannt. Anastasiia Diuzharden, die damalige Leiterin der Abteilung Content Marketing bei Yandex Business, war dort – wie auch eine Reihe anderer Mitarbeiter –, sagt aber rückblickend, sie habe nur wenige Menschen arbeiten sehen. Im Raucherbereich des Gebäudes befanden sich fünfmal so viele Menschen wie sonst. Einige Mitarbeiter verließen noch am selben Tag das Land.

Als die Nachricht von der Invasion im Büro die Runde machte, wurden Diuzharden und ihre Kollegen zu einem "khural", einer wöchentlichen Sitzung, gerufen. Dort, so erzählt sie, versicherte ihnen Tigran Khudaverdyan, Exekutivdirektor und stellvertretende CEO von Yandex, dass das Unternehmen weitermachen werde.

Yandex ist ein Unternehmen, auf das man in Russland stolz war. Es agierte weltweit, wobei ein Teil des Unternehmens in den Niederlanden registriert war. Die Ingenieure konkurrierten erfolgreich mit amerikanischen Unternehmen: Yandex hatte einen größeren Anteil am russischen Suchmarkt als Google erobert und bot eine Reihe von 90 Diensten an, die einen Großteil der digitalen Welt Russlands beherrschten. Dazu gehörten die lukrative Inhaltsplattform "Zen" und die Nachrichtenaggregationsplattform Yandex News, mit der viele Russen ihren Tag im Internet beginnen. Doch genau diese Informationsangebote waren auch die Ursache für die Probleme des Unternehmens.

In den Wochen nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine wurde Yandex News von rekordverdächtigen 14 Millionen Menschen pro Tag besucht. Doch anstatt dort über den Tod von ukrainischen Zivilisten und die Zerstörung ihrer Dörfer und Städte zu lesen, mussten die Nutzer hören, dass die russischen Befreier die Ukraine nur "entnazifizieren". Etwa 70 Prozent der Informationen auf Yandex News stammten aus staatlich kontrollierten Medienquellen, die Propaganda verbreiteten – das Ergebnis eines jahrzehntelangen staatlichen Vorgehens gegen unabhängige russische Medien, einschließlich neuer Gesetze über "zulässige Medienquellen" nach der Invasion.

Diuzharden wusste, dass das Unternehmen auf Nummer sicher gehen musste, um zu überleben. "Wenn Yandex irgendwelche [Antikriegs-]Äußerungen macht, konnte das das Ende des Unternehmens bedeuten", sagt sie. Doch das Entgegenkommen hatte seinen Preis. Drei Wochen nach der Invasion wurde Yandex-Exekutivdirektor Khudaverdyan von der EU mit Sanktionen belegt, weil er der Öffentlichkeit Informationen über den Krieg vorenthalten habe. Er trat von seinem Posten zurück. Vier Tage später wurde der Handel mit Yandex-Aktien an der US-Technologiebörse NASDAQ eingestellt.

Im Juni wurde dann Arkady Volozh, der in Israel lebende CEO des Unternehmens, ebenfalls auf die Sanktionsliste gesetzt und trat zurück. Den Mitarbeitern gegenüber versicherte er, dass das Unternehmen Notfallmittel für sie vorbereitet hatte. "Wir wussten immer, in welchem Land wir leben", erinnert sich Diuzharden an seine Worte. Ehemalige Mitarbeiter schätzen, dass bereits in den ersten zwei Monaten nach der Invasion ein Drittel der Yandex-Mitarbeiter das Land verlassen hat (viele arbeiten allerdings weiterhin als Telearbeiter für das Unternehmen). Diuzharden, die Familie in der Ukraine hat, verließ Russland schließlich im Juni. An ihrem letzten Arbeitstag im Land, in dem Büro mit Blick auf die Moskwa, schätzte sie, dass nur etwa 10 Prozent der üblichen Mitarbeiter anwesend waren.

Im Zuge dieser Veränderungen suchte Yandex schließlich einen Plan, wie es weitergeht. Man kam überein, sich von seinen Nachrichten- und Inhaltsplattformen zu trennen, indem man sie an VK verkaufte. Im Gegenzug erwarb Yandex dessen Lebensmittel-Lieferdienst von VK. Das Geschäft wurde im September abgeschlossen.

Neun Monate nach Beginn der Invasion gab Yandex dann bekannt, dass es in seiner ursprünglichen Form nicht mehr existieren wird. Bis zum Sommer wird das Unternehmen in zwei Teile aufgetrennt: eine russische Komponente und eine weitere, die sich im Besitz der ehemaligen Muttergesellschaft mit Hauptsitz in den Niederlanden befindet. Der russische Teil, der die Kontrolle über die Kerngeschäfte des Unternehmens behalten wird, soll von einer speziellen Management-Partnerschaft übernommen werden, die sich aus drei Yandex-Führungskräften und dem Putin-nahen Wirtschaftswissenschaftler Alexei Kudrin zusammensetzt.

Die langfristigen Aussichten von Yandex sind düster, sagen ehemalige Mitarbeiter. Innerhalb Russlands wird das einst fortschrittliche Unternehmen weiterhin mit der Regierung zusammenarbeiten müssen. Außerhalb des Landes hat das Unternehmen Schwierigkeiten, sein Geschäft voranzubringen. "Ich glaube, es gibt keine Zukunft", sagt Ex-Mitarbeiter Belugin. Yandex will sich zu diesem Thema nicht äußern. Gegenüber MIT Technology Review erklärte das Unternehmen, dass es trotz des schwierigen Jahres seine Mitarbeiterzahl erhöht und seine Umsatzziele für 2022 "übertroffen" habe. Yandex erklärte außerdem, dass es an der Ausweitung seines internationalen Geschäfts arbeite.

Yandex ist nur das jüngste Beispiel einer langen Geschichte von Versuchen des Kremls, die Kontrolle über die russischen Tech-Branche zu übernehmen, weil er befürchtet, dass der ungehinderte Zugang der Bevölkerung zu Online-Informationen zu Problemen für die Regierung führen könnte. Teile dieser Bemühungen gehen auf das Jahr 2011 zurück, als Facebook und Twitter dazu beitrugen, die wohl größten regierungsfeindlichen Proteste im Land seit den 90er Jahren auszulösen.

Einige aus der Tech-Branche schlossen sich den Protesten an, in der Hoffnung, Russland auf einen liberaleren, demokratischeren Weg zu bringen. Tech-Arbeiter Igor sagt, er sei einer von diesen gewesen. Aber nach ein paar Jahren gab er die Proteste auf. "Es fühlte sich hoffnungslos an", sagt er. In den folgenden Jahren führte Russland zunehmend restriktive Gesetze ein, verhaftete Nutzer sozialer Medien wegen ihrer Beiträge, verlangte Zugang zu Nutzerdaten und führte die Filterung von Inhalten ein. Dadurch gerieten sowohl westliche Social-Plattformen wie Facebook, Instagram, Twitter und LinkedIn (das in Russland schon seit 2016 gesperrt ist) als auch ihre einheimischen Pendants unter Druck.

VKontakte, das oft als das russische Facebook bezeichnet wird, wurde "de facto verstaatlicht", nachdem sein Gründer, Pavel Durov, 2014 aus dem Unternehmen gedrängt wurde und Oligarchen, die dem Kreml nahestehen, die Kontrolle übernahmen, erzählt Enikolopov. Nach seiner Flucht aus dem Land bezeichnete Durov, der später die beliebte Messaging-App Telegram gründete, Russland als "inkompatibel zum Internetgeschäft". Laut einer Studie der National Research University Higher School of Economics verlassen Gründer von "Einhorn"-Start-ups – also jenen mit einer Bewertung von über einer Milliarde Dollar – kein Land häufiger als Russland.

Die russische Regierung dachte, sie müsse alles kontrollieren, sagt Enikolopov: "Man konnte die Tech-Unternehmen nicht alleine lassen." Nach der Annexion der Krim 2014 gab es erste internationale Sanktionen gegen Russland. Der Kreml begann daher, die Idee eines eigenen souveränen russischen Internets, das RuNet, zu fördern. Der Krieg gegen die Ukraine und die daraus resultierenden noch stärkeren Sanktionen haben dem Konzept neues Leben eingehaucht. Im März 2022 sperrte der Kreml zunächst den Zugang zu ausländischen Social-Media-Plattformen wie Instagram, Facebook und Twitter, eine Maßnahme, die dazu beitrug, die Russen in einer kontrollierten Informationsblase zu halten.

Das Land arbeitet zudem daran, die beliebten internationalen Websites durch inländische Versionen zu ersetzen. Um Google Play und den Apple App Store zu unterminieren, hat VK zusammen mit dem Ministerium für digitale Entwicklung einen inländischen App-Laden namens RuStore eingerichtet. TikTok, Instagram und YouTube haben lokale Klone wie Yappy, Rossgram und RuTube bekommen. Laut Tech-Arbeiter Igor wird Yandex News künftig dazu beitragen, die staatliche Kontrolle über die Inhalte, die russische Nutzer lesen können, zu konsolidieren und schließlich mit anderen VK-Nachrichtenprodukten verschmelzen.

"Der Hauptfokus von VK ist die Verbreitung von Propaganda", sagt Igor und fügt hinzu, dass dieses Ziel erreicht wird, indem die Aufmerksamkeit der russischen Nutzer auf russische Dienste gelenkt wird. (VK reagierte nicht auf eine Bitte um Stellungnahme.) Die Kontrolle von Online-Inhalten ist nicht das einzige Mittel, mit dem Russland seine digitale Souveränität ausüben will. Nach der Verhängung von Sanktionen im letzten Jahr hat der Staat begonnen, das Ziel des Aufbaus eines kompletten, in sich geschlossenen Tech-Ökosystems zu propagieren, das alle Dienstleistungen von der Finanzierung bis hin zu Hardware und Lieferketten umfasst.

Die russische Regierung hat dazu "beispiellose Mittel" für die Technikindustrie versprochen, die sich bis 2030 auf mehr als 3,19 Billionen Rubel (41,2 Milliarden US-Dollar) belaufen sollen. Doch der Aufbau des Sektors wird eine schwierige Aufholjagd: Selbst nach Schätzungen der Regierung liegt etwa die russische Chipindustrie 10 bis 15 Jahre hinter dem Rest der Welt zurück. Vor den Sanktionen importierte Russland jährlich Hightech-Güter im Wert von etwa 19 Milliarden Dollar, wobei der größte Teil dieser Importe (66 Prozent) aus der EU und den USA stammte, so die Brüsseler Denkfabrik Bruegel. Experten wie Heli Simola von der Bank of Finland schätzen, dass die Einfuhren von Technologiegütern seit dem letzten Jahr um 30 Prozent zurückgegangen sind.

"Russland ist in vielerlei Hinsicht keine sonderlich hoch entwickelte Wirtschaft, was bedeutet, dass es nicht viele Hightech-Industrien gibt", sagt auch Niclas Poitiers, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Bruegel. "In vielen Sektoren ist die Industrieproduktion stark zurückgegangen."

Aufgrund der Handelsbeschränkungen hat Russland auch den direkten Zugang zu Produkten vieler führender Unternehmen verloren, darunter Cisco, SAP, Oracle, IBM, TSMC, Nokia, Ericsson und Samsung. Poitiers meint, dass Russlands Versuch, Technologieunternehmen ohne konventionellen internationalen Austausch im Alleingang aufzubauen, wie ein Rückfall in die Zeit der Sowjetunion wirkt. Das heutige Russland verlässt sich daher eher auf den Chip-Schmuggel über Drittländer sowie Partner wie China. "Das Wissen ist nicht mehr vorhanden. Es gibt kein Humankapital", sagt er.

Schon lange vor dem Einmarsch in der Ukraine bemühte sich die russische Regierung, ihr Tech-Ökosystem mit speziellen Projekten zu stärken. Eines davon war "Rosnano", ein staatliches Nanotechnologieunternehmen, dessen Auflösung die Regierung jetzt jedoch in Erwägung zieht. Das bedeutendste Projekt dieser Reihe war jedoch "Skolkovo", eine Art Hightech-Zentrum, das zu einem russischen Silicon Valley werden sollte.

Selbst in normalen Zeiten hatten solche Vorhaben Schwierigkeiten, sagt Adrien Henni, Risikokapitalgeber und Mitbegründer der Website East-West Digital News. "Es gab schon einige lobenswerte Bemühungen", sagt Henni. "Aber diese Dinge wurden durch Korruption und Ineffizienz behindert – und, noch allgemeiner ausgedrückt, durch die Tatsache, dass sich das Regime insgesamt nicht mehr darum gekümmert hat."

Skolkovo, das 2010 eröffnet wurde, war Teil eines Modernisierungsprogramms, das vom damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew initiiert wurde, der sich einst als junger, digital versierter und westlich orientierter Technokrat präsentierte. Der Ort Skolkovo liegt im Südwesten Moskaus, weniger als 30 Autominuten vom Kreml entfernt und sieht aus wie ein schicker Technologiepark irgendwo auf der Welt. Der Traum sah vor, dass es zu einer Startrampe für Russlands Tech-Unternehmer werden würde, die Zuschüsse, gebildete Mitarbeiter und Büroräume brauchen.

Dabei kam es zu einer steilen Lernkurve. "Das Wort 'Startup' gab es in der russischen Sprache überhaupt nicht", sagt Alexey Sitnikov, Vizepräsident für Kommunikation und Entwicklung der zum Projekt gehörenden Universität, dem Skolkovo Institute of Science and Technology, bekannt als Skoltech.

Einige westliche Tech-Führungskräfte und Risikokapitalgeber folgten dem Ruf jedoch. Manager von Google, Intel, Nokia und Siemens traten den Beiräten und Vorständen von Skolkovo bei. Das MIT unterzeichnete ein Kooperationsabkommen, um Skoltech zu unterstützen, was zu Kontroversen führte und sogar die Aufmerksamkeit des FBI auf sich zog. (Das MIT beendete seine Beziehungen zu Skoltech im Februar 2022 nach Beginn des Ukraine-Krieges.)

An Medwedews Seite war einst auch Ilya Ponomarev, ein Mitglied der Opposition in der Staatsduma und Berater des Präsidenten der Skolkovo-Stiftung, Viktor Vekselberg. Seine Aufgabe war es, die Einrichtung von Technologieparks im ganzen Land voranzutreiben. "Skolkovo war die Weiterentwicklung dieser Idee, das Kronjuwel in diesem Netzwerk", sagt Ponomarew.

Ponomarev blieb nicht lange dabei. Im Jahr 2011, ein Jahr nach dem Start des Vorhabens, wurde er zu einem der Anführer der regierungskritischen Proteste in Russland und wurde bald darauf beschuldigt, Gelder für Skolkovo veruntreut zu haben. Vier Jahre später, nachdem er als einziger Abgeordneter der Staatsduma gegen die Annexion der Krim gestimmt hatte, klagte man ihn wegen Veruntreuung an. Ponomarev wurde die Bankkonten gesperrt und er strandete in den USA, von wo aus er nicht mehr nach Russland ausreisen durfte. Er behauptet, die Anklage sei politisch motiviert. Im Jahr 2019 nahm er die ukrainische Staatsbürgerschaft an und ruft nun die Russen auf, Putin zu stürzen – notfalls mit Gewalt. Die Arbeit, die er und seine Kollegen in Skolkovo und im weiteren russischen Unternehmertum geleistet haben, sei "umsonst".

"Alles, was mit Entrepreneurship und Risikokapital zu tun hat, erfordert ein hohes Maß an internationaler Kooperation und Beteiligung. Und das kann man nicht auf ein Land beschränken. Genau das ist in Russland passiert", sagt er.

Skolkovo beherbergte noch immer eine wachsende Zahl erfolgreicher russischer Start-ups. Doch nach Kriegsbeginn verließen viele internationale Mitarbeiter den Technologiepark. Noch wichtiger ist, dass ausländisches Risikokapital fernbleibt. Im Jahr 2022 sanken die Risikokapitalinvestitionen in russische Unternehmen um 57 Prozent auf 1,1 Milliarden Dollar.

Medwedew kündigte im Dezember an, dass Skolkovo seine Aktivitäten angesichts der durch die Sanktionen verursachten Herausforderungen umgestalten werde. Das Projekt hilft nun dabei, einen Teil der staatlichen Mittel zu verteilen, mit denen der russische Technologiesektor zur Unabhängigkeit gebracht werden soll. Im Februar wurde das Skolkovo-Projekt dann mit US-Sanktionen belegt. Sitnikov und andere führende Vertreter der russischen Technologiecluster wie Irina Travina, die Vorstandsvorsitzende des IT-Verbandes SibAcademSoft in Nowosibirsk, sind nun der Ansicht, dass russische Unternehmen durch die Zusammenarbeit mit anderen Märkten außerhalb der NATO-Sphäre, z. B. in Asien, Lateinamerika und dem Nahen Osten, weiterhin in Russland florieren werden.

Es ist jedoch schwer vorherzusagen, was die Zukunft für den russischen Technologiesektor bereithält. Seit Beginn des Krieges hat das Land eine Welle von Fusionen und Übernahmen erlebt, da ausländische Unternehmen sich beeilten, aus dem Markt auszusteigen. Oft werden Vermögenswerte zu niedrigen Preisen an russische Konkurrenten verkauft. Ein solcher Vermögenswert war etwa Avito, die beliebteste Kleinanzeigenseite in Russland und mittlerweile die größte der Welt: Im Oktober verkaufte eine Tochtergesellschaft des südafrikanischen Unternehmens Naspers sie für 2,46 Milliarden Dollar, einen Bruchteil ihres geschätzten Werts von 6 Milliarden Dollar, um Russland zu verlassen. Die gleiche Tochtergesellschaft hat auch ihren Anteil an VKontakte verkauft. Diese Verkäufe könnten dem Kreml noch mehr Kontrolle über den Technologiesektor verschaffen.

Die russische Wirtschaft entwickelte sich im Jahr 2022 besser als erwartet, wobei einige Technologieunternehmen, darunter Yandex, vom Weggang ihrer Konkurrenten profitierten. Doch viele der Wirtschaftswissenschaftler, Tech-Unternehmer und IT-Mitarbeiter, mit denen wir gesprochen haben, glauben, dass diese Phase nur von kurzer Dauer sein könnte. Ein Ende des militärischen Engagements in der Ukraine durch Russland ist nicht in Sicht. Drei Viertel der Russen unterstützen den Krieg nach wie vor, so zumindest Umfragen.

Eine Sorge ist, dass es gar nicht genug russische Nutzer geben könnte, um die derzeitige digitale Industrie des Landes aufrechtzuerhalten. Eine weitere Sorge ist, dass viele Fachkräfte in andere Länder der Region abgewandert sind, darunter Kasachstan, Georgien, Armenien und die Türkei.

Russlands Politik hofft, diese Arbeitskräfte zur Rückkehr bewegen zu können. Im November zeigte eine Plakatwand auf dem New Yorker Times Square ein Flugzeug, das durch einen strahlend blauen Himmel flog, und eine Botschaft auf Russisch: "Es ist Zeit, nach Hause zu gehen!"

Die Anzeige war eine Einladung an IT-Fachkräfte in die Sonderwirtschaftszone Alabuga in der russischen Republik Tatarstan. Doch vorerst scheinen die Experten nicht zurückzukehren. Russland hatte schon vor dem Krieg mit einem Mangel an heimischen Talenten zu kämpfen. In einem Gartner-Bericht, der Ende 2021, also vor dem Krieg, veröffentlicht wurde, heißt es, dass der Mangel an qualifizierten digitalen Fachkräften bis 2025 um 50 Prozent auf bis zu eine Million Personen ansteigen könnte.

Trotz des sich abzeichnenden Fachkräftemangels kündigte die russische Regierung im September Kürzungen bei einem 21,5 Milliarden Rubel (277,2 Millionen US-Dollar) teuren Förderprogramm an, das die Technologiebranche unterstützen und IT-Spezialisten in Russland halten soll. Mehrere hochrangige Persönlichkeiten haben seit dem Krieg ihre russische Staatsbürgerschaft aufgegeben, darunter der milliardenschwere Tech-Investor Yuri Milner und Oleg Tinkov, Gründer der Online-Bank Tinkoff. Viele andere haben jedoch geschwiegen, weil sie die möglichen Konsequenzen scheuten, wenn sie ihre Stimme erheben.

Yandex-Mitarbeiterin Diuzharden lebt jetzt in Belgrad, Serbien, einem Land, in das viele russische IT-Mitarbeiter dank günstiger Visabedingungen umgezogen sind. Sie ist sich nicht sicher, wann sie ihre Heimatstadt Magdan im Nordosten Russlands, acht Flugstunden von Moskau entfernt, besuchen kann. Viele ihrer Freunde, die das Land verlassen haben, wollen zurückkommen, sagt sie. "Ich bin bereit, nach Russland zurückzukommen, aber nur unter bestimmten Bedingungen. Ich möchte nicht in einem Land leben, in dem Putin der Präsident ist. Ich möchte nicht in einem Land leben, das Kriege anzettelt."

(jle)