Umstrittene Völkerkunde bei Facebook

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Während diese Untersuchung eher von akademischem Interesse war, tragen andere Arbeiten des Data Science Teams dazu bei, Facebook zum Dreh- und Angelpunkt unseres Alltags zu machen, um uns dort dann Anzeigen zu servieren. So untersuchte eine frühe Studie von Marlow und zwei Kollegen 2009, wie Mitteilungen von Freunden Facebook-Neulinge dazu bewegen, selbst etwas zu posten. Kurz vor dem diesjährigen Valentinstag veröffentlichte die Gruppe eine Liste der beliebtesten Musikstücke von Nutzern, die gerade eine Beziehung begonnen oder beendet hatten. Wer gerade eine Beziehung neu begonnen hatte, hörte am liebsten "Don't Wanna Go Home" von Jason Derulo. Wessen Liebe dagegen gerade in die Brüche gegangen war, mochte vor allem "The Cave" von Mumford & Sons. Facebook könnte also lernen, vom derzeitigen Lieblingssong auf eine bestimmte Lebenssituation zu schließen – und damit wissen, welche Anzeigen es einem Nutzer präsentieren sollte. Auf der Seite von frischgebackenen Singles würde sich womöglich Werbung für Alben mit Balladen gut machen. Wenn ein Nutzer den Tod eines Freundes zu beklagen hat, könnte eine Firma wiederum ihre Marke sehr viel emotionaler als sonst präsentieren.

Noch ist das Zukunftsmusik. Bislang sind im Online-Anzeigengeschäft schlichte Banner neben Suchergebnissen am erfolgreichsten. Suchanfragen vermitteln naturgemäß sehr genau, worauf ein User gerade aus ist. Aus diesem Grund sind auch die Werbeeinnahmen von Google zehnmal höher als die von Facebook. Mit Untersuchungen wie der obigen Musikstudie könnte Facebook aber irgendwann noch vor dem Nutzer selbst erkennen, wonach dieser eigentlich sucht.

Doch das Data Science Team wertet nicht einfach nur vorhandene Daten aus. Inzwischen hat es begonnen, die Plattform für ihre Experimente auch zu verändern – ähnlich wie ein Insektenforscher einen Ameisenbau manipuliert, um Reaktionen hervorzurufen. Und im Unterschied zu ihren Kollegen an Universitäten können die Sozialforscher von Facebook die Idee zu einem neuen Experiment schnell mit Hunderten Millionen von Menschen umsetzen. Eytan Bakshy, der 2011 zu Marlows Team stieß, nahm sich der Frage an, ob unsere Handlungen auf Facebook in erster Linie von unseren engsten Freunden beeinflusst werden, denn die haben wahrscheinlich ähnliche Vorlieben. Facebook-Freunde wären dann so etwas wie eine soziale "Echo-Kammer", die unsere Ansichten noch verstärkt. Bakshy beschloss, selektiv in die Kommunikation von rund 250 Millionen Nutzern einzugreifen.

Zunächst zeichnete er sieben Wochen lang die Links auf, die diese Versuchsgruppe mit ihren Freunden teilte. Dann begann er, nach dem Zufallsprinzip die Weiterleitung von Links zu einzelnen Freunden zu blockieren – insgesamt 219 Millionen Mal. Auf diese Weise bekam er zwei Gruppen: eine mit freiem Informationsfluss und eine Kontrollgruppe, in der hin und wieder Links unterdrückt wurden. Bakshy verglich nun, wie oft Nutzer in den beiden Gruppen dieselben Links weiterverbreiteten, weil sie ähnliche Interessen und Informationsquellen hatten. Dabei fand er heraus, dass unsere engsten Freunde zwar einen starken Einfluss darauf haben, was wir teilen. Doch ist dieser Effekt noch gering im Vergleich zum kollektiven Einfluss der zahlreichen Bekannten im Netzwerk. Soziologen nennen solche Bekanntschaftsbeziehungen "weak ties", schwache Bindungen. Tatsächlich ist es die Summe aller unserer schwachen Bindungen, die uns im Umgang mit Informationen am stärksten beeinflussen.

Die Studie widerspricht damit der Hypothese des Netzaktivisten Eli Pariser, soziale Netzwerke würden eine "Filterblase" schaffen, in der wir ausgehend von zuvor aufgezeichneten Vorlieben zunehmend die Informationen bekommen, die wir erwarten. Zugleich zeigt sich in der Untersuchung auch die Macht des sozialen Netzwerks. "Wenn der Strom von Facebook-Mitteilungen das ist, was jeder sieht und was die Ausbreitung von Informationen steuert, kontrolliert er damit, wie Informationen der Gesellschaft zugänglich gemacht werden", sagt Marlow. "Das ist etwas, das wir sehr aufmerksam beachten müssen." Marlow äußert sich natürlich als Angestellter einer Firma mit handfesten Eigeninteressen: Schließlich hängt der Erfolg von Facebook im Wesentlichen davon ab, ein interessantes Werbeumfeld zu schaffen. Und wer Anzeigen schaltet, will sichergehen, dass der Informationsfluss zwischen den Nutzern kontrollierbar ist. Tatsächlich arbeitet Bakshy auch mit Managern außerhalb des Data Science Teams zusammen, um neue, werberelevante Erkenntnisse über soziale Einflussnahme zu sammeln. "Anzeigenkunden und Marken sind genauso ein Teil des Netzwerks. Deshalb ist ein Kernbestandteil unseres Geschäftsmodells, ihnen Einblicke zu verschaffen, wie die Leute Inhalte miteinander teilen", sagt Marlow.