Umstrittene Völkerkunde bei Facebook

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Marlow ging es aber eigentlich nicht darum, Nutzern einen Überblick über die angesagtesten Themen zu verschaffen. Blogdex war als wissenschaftliches Instrument gedacht: Es sollte aufdecken, wie sich im Web soziale Netze bilden und wie sich in ihnen Informationen verbreiten. Als er seinen Doktortitel in der Tasche hatte, ging Marlow zum Forschungslabor von Yahoo. Dort untersuchte er zwei Jahre lang, wie Menschen sich im Web miteinander vernetzen. 2007 schließlich landete er bei Facebook. Damals noch ein aufstrebender Konkurrent des Branchenführers Myspace, hat sich Facebook laut Marlow mittlerweile in das mächtigste Instrument der Welt verwandelt, um die Gesellschaft zu studieren. "Wir haben zum ersten Mal ein Mikroskop, mit dem wir menschliches Verhalten nicht nur sehr feinkörnig auflösen können, genauer als je zuvor, sondern mit dem wir auch Experimente machen können – Experimente mit Millionen von Nutzern", sagt Marlow.

Um interessante Muster in deren Kommunikation zu finden, arbeitet die Gruppe mit Managern aus diversen Abteilungen zusammen. So verfolgen sie etwa, wie sich eine neue Facebook-Funktion im Mega-Netzwerk verbreitet. Sie identifizieren für Nutzer potenzielle "Freunde" und stufen andere zu bloßen "Bekanntschaften" herab, deren Mitteilungen dann auf weniger prominente Ränge auf der Infowand verschoben werden. In einer Firma, in der Programmierer fast als Rockstars gelten und dem Mantra "Move fast and break things" folgen, ist die Gruppe mit ihrer Arbeit ein etwas seltsamer Haufen.

Ein Mittagessen mit dem Data Science Team hat etwas von einer Zusammenkunft von Studenten, die gerade ihren Abschluss oder Doktor gemacht haben. Da wird mehr über neue Konzepte in den Sozialwissenschaften geredet als über Facebook. Einige Mitglieder des Teams sind studierte Soziologen oder Sozialpsychologen, andere sind von der Informatik zur Verhaltensforschung gekommen. Einen Teil ihrer Zeit dürfen sie dafür verwenden, anhand der Facebook-Daten grundlegende Muster oder Motive menschlichen Verhaltens zu überprüfen. Was sie dabei entdecken, können sie in wissenschaftlichen Journalen veröffentlichen, so wie die Forscher der Bell Labs nicht nur die Technologien von AT&T, sondern auch die physikalische Grundlagenforschung vorangebracht haben.

Es ist durchaus erstaunlich, dass eine Firma, die acht Jahre nach ihrer Gründung noch immer kein Geschäftsmodell hat, solche akademisch anmutenden Projekte unterstützt. Für Marlow ergibt dies aber Sinn: "Die schwierigsten Aufgaben, die Facebook lösen muss, sind dieselben wie in den Sozialwissenschaften", sagt er. Dazu gehöre die Frage, warum einige Ideen oder Moden sich von wenigen Individuen ausgehend in der Masse verbreiten, andere jedoch nicht. Oder inwiefern die künftigen Handlungen einer Person durch ihre bisherige Kommunikation mit Freunden geprägt werden. Hierzu Befunde zu veröffentlichen und mit Universitätsforschern zusammenzuarbeiten, verbessere letztlich die Produkte von Facebook, sagt Marlow.

Dabei kann Facebook auch als Studienobjekt für wissenschaftliche Theorien dienen. Eine, die sogenannte Small-World-Theorie, besagt, dass alle Menschen auf dem Globus über höchstens sechs zwischengeschaltete Bekannte miteinander verknüpft sind. Während das bekannteste Experiment hierzu, 1967 in Boston durchgeführt, nur ein paar Hundert Menschen umfasste, konnte Facebook es gemeinsam mit Wissenschaftlern der Universität Mailand im Mai 2011 an einem knappen Zehntel der Menschheit wiederholen. 69 Milliarden Verbindungen von 721 Millionen Nutzern analysierten die Forscher. Ergebnis: Die Welt ist sogar noch kleiner als angenommen. In der Regel reichten vier zwischengeschaltete Bekannte aus, um einen Nutzer irgendeinem Wildfremden im Netzwerk vorzustellen. "Wenn Sie an eine beliebige Person auf der Welt denken, kennt ein Freund ihres Freundes einen Freund dessen Freund", lautete die markante Schlussfolgerung in der Veröffentlichung zur Untersuchung. Diese Beziehungskette mag nicht für jeden Menschen auf dem Planeten gelten, aber es spricht viel dafür, dass sich solche Befunde des Data Science Teams im Großen und Ganzen auch im Leben außerhalb von Facebook finden.

Adam Kramer, einer von Marlows Mitarbeitern, hat ein Verfahren entwickelt, um anhand von Facebook-Aktivitäten das "Bruttosozialglück" eines Landes zu berechnen. Hierfür sammelte er Äußerungen und andere Signale von Nutzern, die ein positives oder ein negatives Gefühl ausdrücken. Die Schwankungen des daraus ermittelten Bruttosozialglücks korrelieren mit realen Ereignissen. Der Ansatz könnte also stimmen. Es stieg beispielsweise in allgemeinen Ferienzeiten und fiel ab, wenn Personen des öffentlichen Lebens starben oder sich nationale Katastrophen ereigneten. So sank das Bruttosozialglück in Chile nach dem schweren Erdbeben im Februar 2010 dramatisch. Es dauerte Monate, bis der vorherige Wert wieder erreicht war. Kramer sagt, er habe exemplarisch zeigen wollen, dass man anhand von Facebook-Daten gesellschaftliche Trends verfolgen kann – was für Ökonomen und andere Forscher sehr nützlich sein könnte.