Umstrittene Völkerkunde bei Facebook

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So erinnern sich Facebook-Nutzer mit einer um 50 Prozent höheren Wahrscheinlichkeit an Anzeigen, wenn die erkennbar von einem Freund gutgeheißen wurden. Mit derartigen Einblicken versuchte Facebook kurz vor dem Börsengang, potenzielle Investoren zu locken. Denn wer die Mechanik der sozialen Beeinflussung versteht, kann Online-Werbung noch eindrücklicher gestalten und damit bewirken, dass die Nutzer noch häufiger auf Anzeigen klicken. Marlow betont, dass es nur darum gehe, die Regeln der Online-Gesellschaft innerhalb von Facebook zu verstehen, nicht jedoch, diese zu manipulieren. "Wir wollen nicht die Kommunikationsmuster der Gesellschaft verändern. Unser Ziel ist, sie zu verstehen und unsere Plattform so zu gestalten, dass die Nutzer dort das erleben können, was sie wollen." Die Versuche der Gruppe und die Ansichten einiger Führungskräfte deuten aber darauf hin, dass das Unternehmen auch das Verhalten seiner Nutzer verändern will.

Bei einem Abendessen mit seiner Frau, einer Medizinstudentin, war Mark Zuckerberg vor einigen Monaten der Gedanke gekommen, Facebook-Nutzer dazu zu bewegen, sich als Organspender registrieren zu lassen. Gesagt, getan. Kurz darauf fanden Nutzer in ihrer Timeline ein Kästchen, das sie anklicken konnten, wenn sie bereits registriert waren. Der Clou: Jedes Häkchen wurde der Freundesschar mitgeteilt, und in kurzer Zeit baute sich eine regelrechte soziale Druckwelle auf. Die Zahl der potenziellen Organspender schnellte daraufhin in 44 US-Bundesstaaten in die Höhe, auf das 24-fache der bisherigen Neuregistrierungen.

All diese Versuche sind erst der Anfang. Das Unternehmen könnte irgendwann Dritten erlauben, Facebook auf diese Art einzusetzen, sagt Marlow. Wenn etwa die American Heart Association eine Kampagne für gesunde Ernährung plant, könnte sie sich dafür aus dem Facebook-Handbuch für Social Engineering bedienen. "Wir wollen eine Plattform sein, mit der andere einen Wandel anstoßen können", bekennt Marlow recht freimütig. Über solche Möglichkeiten dürften sich auch Anzeigenkunden freuen, die wissen wollen, ob ihre Werbekampagnen wirken. Für Facebook wird es höchste Zeit, neue Einnahmequellen zu erschließen. Die Investoren wollen endlich sehen, wie das Netzwerk jenseits der Flut billiger Werbebanner Geld verdienen kann. Erst recht, da das Unternehmen eine Menge Geld ausgibt. Das neue Hauptquartier in Menlo Park im Silicon Valley verkörpert die Schieflage eindrucksvoll: Der Bau, den zuvor Sun Microsystems bevölkert hatte, fasst 6600 Arbeitsplätze. Facebook hat aber erst 3500 Mitarbeiter. In den weiten Fluren stehen zahlreiche Büros leer und warten auf kluge Köpfe, die eine bahnbrechende neue Idee haben, wie man die Nutzerdaten zu Geld macht. Die Kosten sind jetzt schon da.

Eine naheliegende Lösung wäre, die Erkenntnisse aus dem Data Mining einfach zu verkaufen. D. J. Patil, Analyst beim Wagniskapitalgeber Greylock Partners und früherer Leiter des Datenteams von LinkedIn, rät Facebook, sich von Gil Elbaz inspirieren zu lassen. Der erfand einst das AdSense-Programm von Google, mit dem jeder auf seiner Homepage selbst Anzeigen schalten und an den Werbeeinnahmen des Datenriesen mitverdienen kann. Google jedenfalls bestreitet heute ein Viertel seines Umsatzes damit. Darüber hinaus könnte Facebook selbst zur Datenquelle werden, meint Patil. Die Informationen, die in der Kommunikationsflut seiner Nutzer entstehen, ließen sich für fast jedes erdenkliche Geschäft verwenden, ob es sich nun um Partnerbörsen, Pop-Hitparaden oder saisonale Produkte handelt.

Gelänge dem Unternehmen dieser Schritt, ohne Nutzer und Regulierungsbehörden gegen sich aufzubringen, könnte ein lukratives Geschäft in Gang kommen. Was auch immer Marlows Data Science Team herausfinden wird: Die Entscheidung, was Facebook daraus macht, treffen andere. Die Aufgabe seines Teams sei in erster Linie, das Wohlergehen all der Menschen zu verbessern, die Facebook mit ihren Daten füttern, und den Dienst eleganter zu machen. Dabei würden er und seine Kollegen der Menschheit helfen, sich selbst besser zu verstehen. Hier klingt wieder das umstrittene Credo von Mark Zuckerberg an, Facebook müsse die Kommunikation der Welt verbessern. Was genau dieser Anspruch beinhaltet, verrät Marlow lieber nicht. "Es ist schwer abzusehen, wohin wir uns entwickeln, weil diese Wissenschaft erst am Anfang steht", sagt er. Sicher ist nur: "Die Anzahl der Fragen, die wir an den Datenbestand von Facebook stellen können, ist gewaltig." (bsc)