Vom Fahren zum Gefahrenwerden. China: Autonomes Fahren durch Planwirtschaft

Seite 2: Der chinesische Markt

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Nirgends auf der Welt ist die Bereitschaft, selbstfahrende Fahrzeuge zu benutzen, so groß wie in China. Die Tageszeitung China Daily zitierte bereits 2016 nicht ohne Stolz eine Statistik des World Economic Forum, laut der 75 % der Chinesen bereit dazu seien, in ein fahrerloses Fahrzeug einzusteigen. Das liegt sicher auch daran, dass Autofahren in China nicht so weit verbreitet ist wie in den USA oder in Europa. Nur gut jede/r Vierte besitzt überhaupt einen Führerschein, in den USA liegt die Führerscheinquote dagegen bei 70 %, in Deutschland sogar bei 80 %. Viele Menschen können sich in China zudem auf absehbare Zeit kein Auto leisten.

Ein großer Vorteil Chinas ist die Größe des potenziellen Marktes. In China gibt es 112 Städte, die mehr als eine Million Einwohner zählen, in den USA nur ganze zehn. AutoX-CEO Xiao schwärmt: "Wenn sie es in einer Stadt geschafft haben, können sie die gleiche Technologie, das gleiche Geschäftsmodell in 200 weiteren Städten kopieren." Sein Fazit: "In China können wir jede Menge Geld verdienen."

Städte mit Robo-Taxi-Testbetrieben weltweit (nach Einwohnerzahl)

(Bild: Susann Massutte)

Die bereits hohe Akzeptanz hat ähnlich wie in den USA durch die pandemiebedingten Abstandsregelungen neuen Schub bekommen. Während in den USA zunächst sämtliche Tests auf öffentlichen Straßen gestoppt und erst im Oktober 2020 teilweise wieder aufgenommen wurden, konnte China wieder früher an den Start gehen. Der Gründer und CEO Jianxiong Xiao der Firma AutoX wird mit den Worten zitiert: "Die Pandemie verschafft uns einen Vorsprung gegenüber Playern außerhalb Chinas."

Noch gibt es, ähnlich wie in den USA und in Europa, derzeit noch keine nationale Regelung für einen automatisierten Flottenbetrieb auf Stufe 4. Den Unternehmen wird jedoch viel Spielraum gelassen, ihre Technik und ihr Geschäftsmodell nach dem Motto auszuprobieren: technology first, regulation second. Auf Seiten der Behörden und des Staates ist eine hohe Bereitschaft erkennbar, Testszenarien rund um das automatisierte und autonome Fahren zu unterstützen.

Selbstfahrende Fahrzeuge - eine Klassifikation

Die Technik steht, sagen die Entwickler autonomer Autos. Also nur noch eine Frage der Zeit, bis die Selbstfahrer unsere Straßen bevölkern? Da sind noch einige Hürden vor, dazu zählt die Klassifizierung. Eine Begriffsklärung.

Im Januar 2018 hat China einen Entwurf nationaler Vorschriften für fahrerlose Tests auf öffentlichen Straßen erstellt, der Anforderungen an die Überwachungsfunktion, die Autos und Unternehmen sowie die Straßenbedingungen festlegt. Ebenfalls 2018 erteilte Guangzhou als erste chinesische Stadt eine Genehmigung für die Robotertaxis auf öffentlichen Straßen. Bislang bestanden die Behörden aufgrund des "unreifen Charakters der Technologie und des oft komplexen realen Verkehrsumfelds in China" jedoch auf einer Anwesenheit eines Sicherheitsfahrers an Bord, schreibt die South China Morning Post.


(Bild: Michelle Lischke)

Timo Daum ist Dozent und Sachbuchautor. 2019 erschien sein Buch "Das Auto im digitalen Kapitalismus. Wenn Algorithmen und Daten den Verkehr bestimmen". Timo Daum schreibt regelmäßig für de Rubrik Missing Link" auf heise online.

(Bild: David Ausserhofer)

Andreas Knie ist Politikwissenschaftler und leitet zusammen mit Weert Canzler die Forschungsgruppe "Digitale Mobilität und gesellschaftliche Differenzierung". Er berät Kommunen und Organisationen zu den Themen Verkehr, Mobilität, Digitalisierung & Nachhaltigkeit.

(Bild: David Ausserhofer)

Weert Canzler leitet zusammen mit Andreas Knie die Forschungsgruppe Digitale Mobilität am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen sozialwissenschaftliche Verkehrs- und Mobilitätsforschung, Energiepolitik, Innovationsforschung und Technologiepolitik.

Andreas Knie und Weert Canzler sind Preisträger des Bertha-und-Carl-Benz-Preises 2021.


Im Januar 2021 trat das Ministerium für Industrie und Informationstechnologie zum ersten Mal mit dem Entwurf einer nationalen Regelung auf den Plan (Proposed Amendments of the Road Traffic Safety Law), der von Experten als wichtiger Meilenstein angesehen wird. Darin ist erstmals festgelegt, dass an einem Ort vergebene Testlizenzen auch im Rest des Landes Gültigkeit erhalten. Han XInhzua, Professorin an der Communication University of China und Mitglied im Cyberspace Security Strategy and Law Committee of China Communications Institute, betont: "Erstmals ist die demonstrative Anwendung autonomer Fahrzeuge auf nationaler Ebene offiziell zulässig."

Die USA, China und Europa befinden sich in einer ähnlichen Situation, was die Regulierung des Betriebs automatisierter Flotten angeht – in allen großen Märkten wird für 2021 auf eine Implementierung von landesweiten Regelungen gehofft, die Level-4-Betriebe erleichtern, vereinheitlichen und dem komplizierten lokalen bürokratischen Dickicht ein Ende bereiten.

China verfügt als größter Binnenmarkt der Welt über ein sehr hohes Marktpotenzial. Die Akzeptanz in der Bevölkerung ist hoch, die Mehrheit kann sich auf absehbare Zeit kein eigenes privates Auto leisten. Insgesamt ist auch hier eine sehr dynamische Entwicklung zu beobachten. China dürfte in wenigen Jahren technologisch und im Geschäftsvolumen an den USA vorbeiziehen, zumal auch noch andere asiatische Märkte adressiert werden.

Samuel Abuelsamid, Senior Analyst bei Guidehouse Insights, betont gegenüber dem Wall Street Journal: "Die umfassendste Implementierung automatisierter Fahrtechnik im kommenden Jahrzehnt wird in China erfolgen. Der adressierbare Markt ist viel größer als anderswo. Und die Regierungspolitik in China hat definitiv das Potenzial, diesen Prozess zu verstärken." Die Automobilexperten Schwartz und Kelly sehen bei automatisierten Fahrzeugen China in der Rolle, "das Feld zu bereiten". Als Gründe sehen sie insbesondere "hohe Akzeptanzraten neuer Technologien und die Art und Weise, wie die Regierung landesweit Verfahrensweisen festlegt".

In Teil 8 unserer Serie "Vom Fahren zum Gefahrenwerden", der am Mittwoch, den 12. Mai, erscheint, geht es um die Situation in Deutschland, wo sich eine ganz eigene Spezies Stufe-4-fähiger Fahrzeuge ihre Nische erobert haben: Automatisierte Shuttles, auch People Mover genannt, sind hier auf der ersten und letzten Meile, teils integriert in die Fahrpläne des öffentlichen Verkehrs, testweise unterwegs.

Literatur
  • Yuhon Huang: Cracking the China Conundrum. Why Conventional Economic Wisdom Is Wrong, New York 2017
  • Yu Hong: Networking China. The digital Transformation of the Chinese Economy, Urbana 2017
  • S. I. Schwartz, K. Kelly: No One at the Wheel. Driverless Cars and the Road of the Future. New York 2018
  • Shao Binhong (Hrsg.): Political Economy of Globalization and China’s Options, Boston 2018
  • Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort: Autonome Flotten. Mehr Mobilita¨t mit weniger Fahrzeugen. München 2019.
  • Timo Daum: Das Auto im digitalen Kapitalismus. Wenn Algorithmen und Daten den Verkehr bestimmen. München 2019.

(jk)