Warum EU-(Digital-)Gesetzgebung so schwierig ist

Seite 2: Ministerzuständigkeit, Gesetzesentstehung und Konfliktpunkte

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Die bisher beschriebenen Organe der EU haben abgesehen von der Wahl des EP alle fünf Jahre keinerlei Anbindung an die Mitgliedsstaaten. Für diese Verbindung zuständig sind zwei Gremien, die im Deutschen hinderlicherweise zwei zum Verwechseln ähnliche Bezeichnungen haben: der Rat der Europäischen Union und der Europäische Rat. Der Europäische Rat wird in Medien gern als "EU-Gipfel" bezeichnet. Es handelt sich um eine Zusammenkunft der Staats- und Regierungschefs, die sich meist viermal im Jahr treffen und über die generelle Ausrichtung der EU sprechen. Für das Gesetzgebungsverfahren entscheidend ist der Rat der Europäischen Union (im Folgenden: Rat).

Der tagt aber nicht als ein fest besetztes Gremium, sondern in verschiedenen Ratsformationen, denn im Rat treffen sich die jeweiligen Fachminister aus den Mitgliedsstaaten (wobei die Länder frei sind, wen sie entsenden). Für Digitalthemen ist zum Beispiel der Rat für "Verkehr, Telekommunikation und Energie" (TTE) immer wieder gefragt. Aus Deutschland muss dann in der Regel Verkehrs- und Digitalminister Volker Wissing anreisen. Zusätzliche Komplexität kommt dadurch hinzu, dass es in den Räten immer noch eine Ratspräsidentschaft gibt. Die gibt sich eine eigene Agenda (und ein eigenes Logo) und rotiert alle sechs Monate durch alle Mitgliedsstaaten.

Weil die Minister auch Aufgaben in ihren Heimatländern haben und nicht ständig in Brüssel weilen können, gibt es zusätzlich den "Ausschuss der Ständigen Vertreter" (COREPER) in dem sich Entsandte der Mitgliedsstaaten wöchentlich treffen und die Meinungen ihrer Regierungen vertreten.

Die Initiative für ein Rechtsetzungsverfahren geht immer von der Kommission aus. Die hat zwei Pfeile im Köcher, um ein Vorhaben umzusetzen. Auf der einen Seite gibt es Richtlinien, wie zum Beispiel die 2022 beschlossene Richtlinie (engl. "Directive") für einheitliche Ladegeräte. Eine solche Richtlinie erscheint nach erfolgreichem Verfahren im Amtsblatt der EU (eur-lex.europa.eu). Sie richtet sich nicht an Bürger, Unternehmen oder Organisationen, sondern nur an die Mitgliedsstaaten. Richtlinien setzen Leitplanken, geben aber den nationalen Gesetzgebern meist einigen Handlungsspielraum.

Die Mitgliedsstaaten werden verpflichtet, die Vorgaben der Richtlinie innerhalb einer gesetzten Frist in nationales Recht umzusetzen. Tut ein Staat das nicht rechtzeitig, eröffnet die COM ein Vertragsverletzungsverfahren.

Das zweite Instrument der Kommission ist eine Verordnung (engl. "Act"). Eine solche wirkt direkt in allen Mitgliedsstaaten und kann allen Zielgruppen Rechte einräumen und Pflichten auferlegen, wie es auch ein nationales Gesetz kann. Üblicherweise geht die Kommission schrittweise vor und legt mit einer Richtlinie den Grundstein dafür, dass in der EU in etwa das gleiche Recht gilt. Jahre später und unter Berücksichtigung von Erfahrungen mit den nationalen Gesetzen folgt dann die Vollharmonisierung durch eine Verordnung. So geschehen zum Beispiel mit der Richtlinie 95/46/EG, die 1995 das europäische Datenschutzrecht halbwegs auf ein gemeinsames Level hob. In Deutschland änderte sich damals wenig, weil die Richtlinie schon auf dem deutschen Datenschutzgesetz von 1990 aufbaute. 2018 folgte dann die Datenschutzgrundverordnung als direktes EU-Recht.

Die Kommission ist aber nicht gezwungen, zuerst eine Richtlinie auf den Weg zu bringen. Dem aktuell diskutierten AI Act zur Regulierung von künstlicher Intelligenz ging keine Richtlinie voraus.

Zwischen den Vorschlag der Kommission und der Veröffentlichung einer Richtlinie oder Verordnung im Amtsblatt haben die Autoren der EU-Verträge (jene Rechtstexte, die die Ziele und die Arbeit der EU regeln) ein Rechtsetzungsverfahren gestellt.

In der Theorie ist das ordentliche Verfahren ganz einfach: Die Kommission erarbeitet einen Vorschlag für den Gesetzestext und legt ihn dem Parlament vor. Das bespricht den Text im zuständigen Ausschuss und bestimmt dort einen Berichterstatter, der für das Verfahren zuständig ist. Damit alle Fraktionen in den Prozess eingebunden sind, ernennen sie im Ausschuss eigene Schattenberichterstatter. Dann kommt der Vorschlag in erster Lesung ins Plenum und das Parlament hat zwei Optionen: Entweder stimmt es mit einfacher Mehrheit der abgegebenen Stimmen zu oder es verabschiedet einen eigenen Standpunkt, also einen Vorschlag mit Änderungen, den der Ausschuss erarbeitet hat. Dieser Vorschlag landet in erster Lesung im Rat (bei den zuständigen Ministern). Wenn die mit qualifizierter Mehrheit zustimmen, ist der Rechtsakt erlassen. So die Theorie.

Bevor die Frage geklärt werden soll, warum das in der Realität so nie passiert, ist das Konzept der qualifizierten Mehrheit erklärungsbedürftig. Anders als zum Beispiel die deutschen Länder im Bundesrat hat jeder Mitgliedsstaat im Rat der EU nur eine Stimme. Die qualifizierte Mehrheit soll sicherstellen, dass dennoch alle Bürger der EU ausreichend repräsentiert sind. Für einen Rechtsakt müssen einerseits mindestens 55 Prozent der Staaten zustimmen (15 von 27). Außerdem müssen so viele Länder dafür sein, dass mindestens 65 Prozent der Bevölkerung repräsentiert sind (Deutschland allein vertritt über 18 Prozent, Frankreich über 15).

Zurück zum Rechtsetzungsverfahren, wie es in den Verträgen gefordert wird: In der Realität winkt das Parlament keinen Vorschlag der Kommission ohne eigenen Standpunkt durch und auch der Ministerrat beschließt keinen Rechtsakt ohne eigenen Standpunkt. Dafür hängen an jedem Vorschlag zu viele Interessen – europäische, nationale, regionale, parteipolitische, …

Auch der Rat kann einen eigenen Standpunkt erarbeiten. In diesem Fall sieht das Verfahren vor, dass auch die Kommission ihren Standpunkt noch einmal darlegt und die Vorschläge dem Parlament in zweiter Lesung vorlegt. Das könnte das gesamte Verfahren durch Abstimmung über den Vorschlag des Rats mit absoluter Mehrheit scheitern lassen. Es kann den Vorschlag des Rates aber auch annehmen, dann wäre der Rechtsakt erlassen. Wahrscheinlicher ist, dass das Parlament seinerseits wieder Änderungen vorschlägt und den Ball an den Rat zurückspielt. Der kann dem neuen Vorschlag innerhalb von drei Monaten zustimmen (Rechtsakt wäre erlassen), ihn ablehnen oder sich einfach nicht damit befassen. In dem Fall würde gemäß der Verträge ein Vermittlungsausschuss zusammenkommen, der aus Parlament, Rat und Kommission besetzt ist und wegen der Besetzung aus drei Organen auch "formeller Trilog" genannt wird. Alles in diesem Verfahren ist streng mit Fristen und vorgesehenen Kommunikationswegen geregelt.