Warum EU-(Digital-)Gesetzgebung so schwierig ist

Seite 3: Kaum noch Verhandlungen und Bürokratie

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In der Praxis kommt es nahezu gar nicht mehr dazu, dass ein Gesetzesvorhaben durch mehrere Lesungen muss und am Ende im formellen Vermittlungsausschuss landet. Das liegt daran, dass sich die drei Beteiligten schon vorab außerhalb des Gesetzgebungsvorgangs auf eine Fassung geeinigt haben, quasi ein Hack des ordentlichen Verfahrens. Die Kommission bringt erst diese gemeinsame Fassung ins ordentliche Verfahren ein, das Parlament hebt in erster Lesung mehrheitlich die Hand, der Ministerrat schließt sich ein paar Tage später an, dann knallen wortwörtlich die Sektkorken bei Beteiligten, die teils Jahre an einem Projekt gearbeitet haben.

Der Vorteil: Für solche Vorabverhandlungen gibt es keine Regeln, man kann verhandeln, wie man es für zielführend hält. Der Nachteil: Für solche Vorabverhandlungen gibt es eben keine Regeln. Das bedeutet für die Öffentlichkeit auch, dass Entwürfe, Standpunkte und Debatten nicht öffentlich sind und der ganze EU-Apparat, der jede Kleinigkeit in alle Sprachen der EU übersetzt und auf gut gepflegten Websites gut durchsuchbar veröffentlicht, in der Trilog-Verhandlungsphase keinen Platz hat.

Der Fachbegriff für diese Vorabverhandlung ist "informeller Trilog". Die Initiative geht weiterhin von der Kommission aus, doch obwohl sie eigentlich die Verhandlungen von EP und Rat nur beobachten soll, ist sie während des gesamten Vorgehens mit am Tisch und in einer besonderen Machtposition: Sie könnte den Vorschlag jederzeit zurückziehen, wenn ihr die Richtung missfällt, in die sich die Verhandlungen entwickeln.

Das Parlament verweist den initialen Vorschlag zunächst in einen fachlich passenden Ausschuss, manchmal sogar in mehrere, was die Sache dann noch komplizierter macht. Der Ausschuss erarbeitet einen internen Standpunkt und holt sich ein Mandat des Plenums für diese Position. Für die Verhandlungen entsendet das Parlament den Ausschussvorsitzenden und den Berichterstatter aus dem Ausschuss. Außerdem schicken die Fraktionen die Schattenberichterstatter. Auch der Rat entwickelt einen Standpunkt und entsendet einen Vertreter der Ratspräsidentschaft sowie einen Arbeitsgruppenvorsitzenden. Die Kommission wiederum schickt einen Direktor oder Referatsleiter (für Datenschutz zum Beispiel aus dem Referat JUST.C.3), der zwischen den Standpunkten vermitteln soll, aber auch den Standpunkt der Kommission vertritt.

Gearbeitet wird mithilfe einer vierspaltigen Tabelle, die nebeneinander den Entwurf der COM, den Standpunkt des EP, den Standpunkt des Rats und den Kompromiss enthält. Zeilenweise quält man sich durch die Absätze, bis irgendwann ein Kompromiss spruchreif ist. Was hinter den geschlossenen Türen verhandelt wird, bleibt in der Regel auch dort; Protokolle oder Aufzeichnungen gibt es nicht.

Das schlägt sich auch in der Berichterstattung von Journalisten nieder. Hin und wieder werden Entwurfsfassungen von Vertretern der Fraktionen an Medien durchgestochen, vor allem dann, wenn man auf Widerspruch der Öffentlichkeit hofft. Auf der anderen Seite nutzen Interessenvertreter in Brüssel die Gelegenheit, während des Trilogverfahrens den Verhandlern die Position ihrer Auftraggeber nahezubringen. Weil der Kreis der Verhandler klein und die Diskussion intransparent ist, ist hier eine wirksame Stelle für Einflussnahme. Offizielle Möglichkeiten für Vertreter der Zivilgesellschaft und für Interessenvertreter mit kommerziellen Interessen, ihre Positionen kundzutun, gibt es im informellen Trilog nicht.

Im Fall der Diskussion über eIDAS, über die wir Anfang 2024 ausführlich berichtet haben, wurde dieses Problem deutlich: Die gesamte Berichterstattung fußte auf inoffiziellen Zwischenständen, die teils bei Twitter kursierten, teils gezielt an Journalisten weitergeleitet wurden. Auf dieser Grundlage reagierten auch die Browserhersteller wie Mozilla, die mit einer aufwendigen Kampagne eine Öffentlichkeit herstellten und gemeinsam mit Sicherheitsforschern vor staatlich kontrollierten Zertifizierungsstellen warnten, denen Browser vertrauen müssen.

Ebenfalls in keinem Protokoll oder öffentlichen Dokument tauchen Kuhhandel im Rat auf, die auch nie zweifelsfrei nachgewiesen werden können: Ein Mitgliedsstaat kann durchaus hinter verschlossenen Türen mit seinen Ministerkollegen zum Beispiel seine Zustimmung zu einer Verordnung im Digitalbereich von Agrarsubventionen abhängig machen.

Trotz intensiver Beratungen gibt es immer wieder Punkte, über die keine Einigung erzielt werden kann. Oder man ist sich einig, dass ein Detail nicht fest formuliert in einem Gesetz stehen sollte, weil sich die Welt schneller ändern kann, als die Gesetzgebung später reagieren könnte. In diesen Fällen ziehen die Verhandler, insbesondere bei komplexen technischen Themen, gern einen Joker: den delegierten Rechtsakt. In der Verordnung selbst wird dann die Kommission ermächtigt, sich um die konkrete Umsetzung später zu kümmern und die Details in einem separaten Text auszuarbeiten, der nicht das gesamte Verfahren durchlaufen muss. Hier besteht die zweite Gelegenheit für Interessenvertreter aller Art, ihre Standpunkte einzubringen. Die Kommission konsultiert, bevor sie einen solchen delegierten Rechtsakt formuliert, ganz offiziell Experten. Ist der Text fertig, dürfen Parlament und Rat Einwände gegen die genauen Regelungen erheben. Tun sie das nicht, wird der delegierte Rechtsakt wirksam.

Im Entwurf zum AI Act zum Beispiel findet sich eine Grenze, ab der KI-Modelle als so groß eingestuft werden, dass ein systemisches Risiko besteht und besondere Anforderungen gelten (Artikel 51). Die Grenze ist zunächst auf 1025 Gleitkommaoperationen während des Trainings festgelegt. Sollten sich die Erkenntnisse der Wissenschaft ändern, kann die Kommission, die ein "European AI Office" betreibt, diesen Grenzwert per delegiertem Rechtsakt nach oben oder unten verschieben.

Zurück zum inoffiziellen Trilog: Wenn sich die Verhandler Zeile für Zeile durch den Text gearbeitet und geeinigt haben, billigen die jeweiligen Organe, also Rat und Parlamentsausschuss, den verhandelten Text. Der Rest ist Formsache: Die Kommission bringt den Text formal ein, als wäre es ihr eigener, Parlament und Rat stimmen in erster Lesung ab und der Rechtsakt ist erlassen. Wann er dann Folgen für die Bürger hat, hängt zunächst von der Art ab: Eine Richtlinie muss erst zu nationalem Recht werden und auch eine Verordnung muss nicht direkt wirken. Am Ende des Textes wird einerseits das Inkrafttreten geregelt, also der Zeitpunkt, ab dem sie Gesetzeskraft hat. Wirksam werden können Regelungen grundsätzlich auch später.