Wie Strafgefangene per VR das Leben in Freiheit lernen

Seite 2: VR als Training für den Alltag in Freiheit

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Rainer glaubt, dass die Simulation im Lebensmittelladen nützlich war, ist sich aber bewusst, dass sich die reale Welt, sollte er sie wirklich wieder betreten, sehr von dieser Videospiel-ähnlichen Version unterscheiden wird, mit der er im Gefängnis interagiert. "Wenn ich in die Gesellschaft zurückkehre, möchte ich aber nicht einfach in einem Lebensmittelladen erstarren und dann nicht wissen, was ich kaufen soll, weil es so viele Möglichkeiten gibt", sagt er. Er arbeite nicht gerne am Computer, aber er wisse, dass er das müsse.

Da die VR-Technologie immer erschwinglicher wird, werden solche Programme zu einer budgetfreundlichen Option für US-Bundesstaaten, die bereits mit einem anhaltenden Mangel an Arbeitskräften im Justizsystem zu kämpfen haben. "Wenn wir die Rückfallquoten senken würden, hilft das der Gesellschaft", erklärt Sarah Rimel, ehemalige Programmmanagerin für Technikforschung beim National Mental Health Innovation Center von Colorado. Dadurch lande weniger Geld in den Gefängnissen.

VR hat sich auch als vorteilhaftes therapeutisches Instrument erwiesen, das helfen kann, die Depressionsrate zu senken, Ängste zu reduzieren, Phobien zu überwinden, emotionales Einfühlungsvermögen zu fördern und posttraumatischen Stress zu bewältigen – zumindest in einigen Studien. So wurde etwa die sogenannte VR-Expositionstherapie erfolgreich eingesetzt, um Bevölkerungsgruppen wie Kriegsveteranen oder Überlebenden von sexuellen Übergriffen zu helfen, ihre Trigger und Traumata zu konfrontieren und damit besser zu bewältigen. Alle diese Forschungsarbeiten basieren jedoch auf Versuchen, die mit Menschen durchgeführt wurden, die nicht inhaftiert waren.

Die derzeit verfügbare Evidenz zu dem Ansatz in Justizvollzugsanstalten ist begrenzt und meist anekdotisch. Es gibt jedoch einige positive Ergebnisse. So führte beispielsweise eine kurzfristige Pilotinitiative in Alaska, bei der das Erlernen von Achtsamkeitstechniken durch VR ersetzt wurde, zu einem Rückgang der Berichte über depressive Gefühle oder Angst – und zu weniger Disziplinarmaßnahmen.

In Michigan wurde ein Virtual-Reality-Tool für das Training von Vorstellungsgesprächen, das ursprünglich für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen entwickelt worden war, in einem Pilotprojekt mit 44 Männern getestet, die im Justizsystem steckten. Die Ergebnisse, die im März 2022 veröffentlicht wurden, zeigten, dass 82 Prozent der Teilnehmer, die das Tool nutzten, innerhalb von sechs Monaten nach ihrer Entlassung einen ersten Arbeitsplatz fanden, verglichen mit 69 Prozent anderer Programmteilnehmer.

Unter Berücksichtigung von Variablen wie Alter, Rasse und verbüßter Haftzeit ergaben die Daten, dass diejenigen, die das Programm nutzten, eine 7,4-mal höhere Chance hatten, einen Arbeitsplatz zu finden. "Abgesehen von der Beschäftigungsquote wiesen diejenigen, die ein Vorstellungsgespräch mit Molly [der virtuellen Personalmanagerin] führten, im Laufe der Zeit bessere Fähigkeiten für Vorstellungsgespräche auf, verringerten ihre Angst vor Vorstellungsgesprächen und steigerten ihre Motivation, ein Vorstellungsgespräch zu beginnen", sagt Matthew Smith, Professor für Sozialarbeit an der Universität von Michigan, der die Studie leitete. Er und sein Team nehmen jetzt eine größere Gruppe in eine Validierungsstudie auf.

Colorado verfügt über keine Daten, auf die man sich in Sachen Erfolg oder Misserfolg berufen könnte. Nur eine der 16 im Laufe von fast drei Jahren durch JYACAP entlassenen Personen wurde bislang erneut verhaftet. Zwei dieser 16 Personen wurden noch bevor sie das gesamte Programm absolviert hatten, auf Bewährung entlassen. "Wenn die richtigen Szenarien verwendet werden", sagt Cheryl Armstrong, eine der ersten JYACAP-Absolventen, "ist es [VR] zumindest bis zu einem gewissen Grad hilfreich, um eine Vorstellung davon zu bekommen, was auf einen zukommen wird."

Ticknor von der Valdosta State University schätzt, dass derzeit weniger als 10 Prozent der Justizvollzugsanstalten VR-Simulatoren bei inhaftierten Personen einsetzen. Es wird aber erwartet, dass sich das bald ändert. "Es würde mich sehr überraschen, wenn dies innerhalb von fünf Jahren nicht eine ganz normale Behandlungsmethode für diese spezielle Zielgruppe wäre", sagt sie.

(jle)