Wie weit Deutschland im "Dritten Reich" bei der Kernforschung war

Die USA wollten verhindern, dass die Nazis vor ihnen eine Atombombe bauen. Uranwürfel verraten den tatsächlichen Stand der Atomforschung im "Dritten Reich".

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 378 Kommentare lesen

Dieser Uranwürfel lan­dete 2013 an der University of Maryland. Er war Bestandteil der Atomwaffenforschung im "Dritten Reich".

(Bild: John T. Consoli/ University of Maryland)

Lesezeit: 15 Min.
Von
  • Miriam Hiebert
  • Timothy Koeth
Inhaltsverzeichnis

J. Robert Oppenheimer und der Bau der Atombombe in der geheimen Forschungsstadt in Los Alamos in New Mexico in den USA zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs ist der Stoff des jetzt gestarteten Kinofilms "Oppenheimer". Die US-Regierung befürchtete damals, dass die Deutschen ebenfalls an einer Atombombe arbeiteten. Dafür gibt es bis heute keine eindeutigen Belege. Erwiesen ist allerdings, dass sie an einem Atomreaktor gearbeitet haben – und mit ihren Berechnungen gar nicht mal so falsch lagen. Die Hinweise dazu liefern besondere Uranwürfel.


Veröffentlichung dieses Textes mit freundlicher Genehmigung des American Institute of Physics. Er stammt von Timothy Koeth und Miriam Hiebert. Koeth war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung außerordentlicher Forschungsprofessor an der Fakultät für Materialwissenschaften und Ingenieurwesen der University of Maryland. Hiebert war dort Doktorandin. Erstmals erschien dieser Artikel in deutscher Sprache in der Ausgabe 11/2019 von MIT Technology Review unter dem Titel "Das Rätsel der Uranwürfel".


Im Sommer 2013 fand ein Würfel aus Uran mit circa fünf Zentimeter Seitenlänge und einem Gewicht von etwa fünf Pfund seinen Weg zu uns an die University of Maryland. Als ob das plötzliche Erscheinen dieses ungewöhnlichen Metallwürfels nicht rätselhaft genug war, kam er mit einer Nachricht, die ­lautete: "Aus dem Reaktor, den Hitler zu bauen versuchte. Ein Geschenk von Ninninger."

Die Welt trat in das nukleare Zeitalter ein, als die Trinity-Bombe am 16. Juli 1945 in der Nähe von Alamogordo, New Mexico, detonierte. Das Manhattan-Projekt, in dem diese Bombe konstruiert wurde, entstand als Reaktion auf die Befürchtung, dass Wissenschaftler in Nazi-Deutschland an einer eigenen atomaren Waffe arbeiten. Der Würfel sollte offenbar ein Überbleibsel dieses gescheiterten Unterfangens darstellen.

Aber wie kam ein Stück Uran aus Deutschland 70 Jahre später nach Maryland? Wie viele von diesen Würfeln gibt es da draußen? Was ist mit dem Rest passiert? Wer ist Ninninger? Auf der Suche nach Antworten auf all diese Fragen haben wir einige neue Erkenntnisse über das deutsche Atomprogramm selbst gewonnen. Die wohl weitreichendste ist: Die Deutschen hätten tatsächlich einen Atomreaktor bauen können.

Unsere Untersuchung der Herkunft des Würfels begann mit dem Offensichtlichen. Der Hinweis "Aus dem Reaktor, den Hitler zu bauen versuchte" bezog sich zweifellos auf das Kernforschungsprogramm, das deutsche Wissenschaftler während des Zweiten Weltkriegs durchgeführt haben. An diesem Forschungsprogramm waren mehrere deutsche Physiker beteiligt; der vielleicht bekannteste war Werner Heisenberg.

Anstatt unter zentraler Leitung so zusammenzuarbeiten, wie es die Wissenschaftler des Manhattan-Projekts schließlich tun würden, wurden die deutschen Kernforscher in drei Gruppen eingeteilt, die jeweils eine eigene Experimentserie durchführten. Jede Gruppe wurde nach der Stadt benannt, in der die Experimente stattfanden: Berlin (B), Gottow (G) und Leipzig (L). Obwohl die Deutschen ihre Arbeit bereits 1941 – fast zwei Jahre vor Beginn der ernsthaften US-Bemühungen – begannen, waren ihre Fortschritte jedoch extrem langsam.

Im Winter 1944, als die Alliierten ihre Invasion in Deutschland begannen, versuchten die deutschen Kernforscher immer noch verzweifelt, einen Reaktor zu bauen, in dem eine sich selbst erhaltende Kernspaltung ablief. Ohne die immensen Fortschritte des Manhattan-Projekts zu kennen, hofften die Deutschen, dass sie, obwohl sie mit ziemlicher Sicherheit den Krieg verlieren würden, auf diese Weise wenigstens den Ruf ihrer Wissenschaft zu retten.

Um ihre Versuche fortsetzen zu können, wurden die von Heisenberg geleiteten Berliner Reaktorversuche nach Süddeutschland verlegt. Sie landeten schließlich in einer Höhle ­unter einem Schloss in der kleinen Stadt Haigerloch in der Schwäbischen Alb.

In diesem Höhlenlabor baute Heisenbergs Team sein letztes Experiment: B-VIII, das achte Experiment der Berliner ­Gruppe. Heisenberg beschrieb den Aufbau des Reaktors in seinem 1953 erschienenen Buch "Nuclear Physics": Der experimentelle Kernreaktor umfasste 664 Uranwürfel mit einem Gewicht von jeweils etwa fünf Pfund. An 78 Aluminiumkabeln hingen die Würfel zu Ketten aufgereiht am Deckel eines Kessels, der mit schwerem Wasser geflutet wurde. Der Kessel war von einer ­ringförmigen Wand aus Graphit umgeben, das die bei der ­Kernspaltung frei werdenden Neutronen reflektieren sollte. ­Diese Konfiguration war das beste Design, das das deutsche Programm erreicht hatte, aber sie reichte nicht aus, um eine ­selbsttragende Kernspaltung und somit einen kritischen Reaktor zu betreiben.

Unser Würfel war Teil von Heisenbergs B-VIII-Experiment. Die Flächen des Würfels enthalten große Hohlräume aus Blasen, die sich bei einem Grobgussverfahren gebildet haben. Diese Eigenschaften stehen im Einklang mit den frühen Uranaufbereitungsmethoden, bei denen die Metallkomponenten einzeln gegossen wurden.

Zwei der Kanten des Würfels haben Kerben, die sorgfältig von Hand gefeilt wurden. Sie hätten als Schienen gedient, um das Kabel zu halten, mit dem die Würfel im B-VIII-Aufbau aufgehängt wurden.

Wir haben zerstörungsfreie analytische Techniken und nu­kleare Forensik am B-VIII-Reaktorwürfel eingesetzt, um seine Identität genauer zu bestätigen. Die hochauflösende Gamma­strahlenspektroskopie des Würfels zeigte, dass seine Zusammensetzung die von Natururan ist, das nicht abgereichert oder angereichert ist. Die Spektroskopie bestätigte auch, dass der ­Uranwürfel nie Teil eines Reaktors war, der die Kritikalität ­erreichte; er enthielt keine verräterischen Spaltprodukte wie beispielsweise Cäsium-137. Beide Ergebnisse stimmen mit dem überein, was über das im B-VIII-Reaktorbetrieb verwendete Uran dokumentiert wurde, was uns zu dem Schluss führt, dass es sich bei dem Würfel tatsächlich um einen authentischen aus Heisenbergs Experiment handelt.

Die nächste Frage war, wie eine Komponente des deutschen Kernreaktor-Experiments auf der Westseite des Atlantiks landete. Die Antwort liegt in einem gut untersuchten und ausführlich dokumentierten Aspekt der Geschichte des Zweiten Weltkriegs: der Mission Alsos.

Als die alliierten Streitkräfte 1944 in das von Deutschland besetzte Gebiet vorstießen, befahl Leslie Groves, Kommandant des Manhattan-Projekts, eine verdeckte Mission mit dem Namen Alsos (griechisch für „Haine“). Sie sollte Informationen über den Stand des deutschen Wissenschaftsprogramms sammeln – aus allen wissenschaftlichen Disziplinen von der Mikro­skopie bis zur Luftfahrt. Ihre drängendste Aufgabe war zu erfahren, wie weit deutsche Physiker bei der Erforschung von Kernreaktionen gekommen waren.

Als die Alliierten in Süddeutschland einmarschierten, ­bauten Heisenbergs Wissenschaftler B-VIII schnell ab. Die ­Uranwürfel wurden in einem nahe gelegenen Feld vergraben, das schwere Wasser wurde in Fässern versteckt, und einige der bedeuten­deren Dokumente wurden in einer Latrine versteckt. Als das Alsos-Team Ende April 1945 in Haigerloch ankam, wurden die an dem Experiment beteiligten Wissenschaftler verhaftet und verhört. Heisenberg selbst war bereits auf einem Fahrrad im Schutz der Nacht mit fünf Uranwürfeln im Rucksack nach ­Osten geflüchtet.

Am 27. April 1945 wurden die restlichen 659 Uranwürfel ausgegraben und zusammen mit dem Schwerwasser nach Paris und später unter der Kontrolle des Combined Development Trust in die USA verschifft. Das CDT war eine zuvor von ­Groves zwischen den USA und Großbritannien gegründete kollaborative Organisation, um zu verhindern, dass feindliche Länder wie die Sowjetunion genügend Kernmaterial für die Entwicklung eines eigenen Atomprogramms erhalten.