Zeitmaschine fürs Klima

Seite 4: Waldlabor in Bayern

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Entlang schmaler Holzstege führen dicke Kabelbündel zu den Dächern und zu zahlreichen Bäumen. Aus dem Kronendach hängen an einigen Stellen dünne, durchsichtige Plastikschläuche herab wie Lianen. Das "Gehirn", bei dem alles zusammenläuft, ist ein mit Technik vollgepackter grüner Bauwagen. "Unser Mission Control Center", sagt Rainer Matyssek schmunzelnd. Hightech trifft auf Waldidylle. "Weil es unmöglich ist, ausgewachsene lebende Altbäume ins Labor zu bringen, bringen wir das Labor eben zu ihnen", erklärt der 62-jährige Ökologe, der sich die aufwendige Vermessung des Waldes zusammen mit dem Forstwissenschaftler Hans Pretzsch ausgedacht hat.

Die einen halben Hektar große Versuchsfläche im Kranzberger Forst betreibt die TU München zusammen mit dem Helmholtz-Zentrum München. Seit drei Jahren dreht sich dort alles um das Thema Trockenstress. Denn die meisten Klimaprognosen sagen auch für Mitteleuropa bis zum Ende des Jahrhunderts eine deutliche Zunahme von Extremwetterlagen voraus – heftige Gewitter und Wolkenbrüche ebenso wie längere und intensivere Dürreperioden. "Wir müssen verstehen, was genau in den Bäumen vorgeht, wenn sie unter Wassermangel leiden", erklärt Matyssek.

Die Dächer, die sich vollautomatisch schließen, sobald es zu regnen beginnt, sowie ein ausgeklügeltes System zur Wasserableitung sorgen im Waldlabor für künstliche Trockenheit. "Wir wollen die Bäume unter den Dächern an den Rand des Absterbens bringen. Lassen sie dann aber natürlich nicht eingehen. Das könnten wir gar nicht ertragen. Außerdem wollen wir ja sehen, wie und wie rasch sie sich wieder regenerieren."

32 Bäume sind mit Messgeräten verkabelt wie Patienten auf einer Intensivstation. Mit Spezialkameras filmen die Forscher das Wurzelwachstum. Messfühler kontrollieren die Temperatur im Stamm. Saftfluss-Sensoren melden, ob die kleinen Spaltöffnungen der Blätter gerade geöffnet oder geschlossen sind und messen exakt die Menge, die der Baum jeden Tag ausdünstet. Dendrometer registrieren, wie stark ein Stamm nachts anschwillt und tagsüber wieder schrumpft – wie der Baum also verdaut. Maßbänder zeigen an, wie viel Umfang er innerhalb eines Jahres zulegt. Mit Gaswechselmessern dokumentieren die Forscher, was und wie viel der Stamm ausatmet. Rund 20 Wissenschaftler und Techniker kümmern sich abwechselnd fast rund um die Uhr um die Anlage.

Mit einer schmalen roten Gondel fährt Michael Goisser am Kranarm hinauf über die Baumwipfel. Von hier oben in 45 Meter Höhe ist die Struktur des Kranzberger Forsts gut zu erkennen: Kleine Inseln von Buchen und Fichten bilden ein dichtes Patchwork-Muster. Mithilfe einer Fernsteuerung kann er über 100 Bäume punktgenau und in beliebiger Höhe ansteuern. Im Kronenbereich einer Buche befestigt der Forstwissenschaftler eine aufklappbare Plexiglasröhre, die über einen dünnen Schlauch mit dem Druckluftgenerator am Boden verbunden ist. Vorsichtig verschließt er die Küvette, sodass von außen keine Luft mehr an die Blätter dringen kann. Nun werden sie nur noch mit einem speziellen Luftgemisch von unten umspült. Es enthält nichtradioaktive Kohlenstoffisotope. Diese bauen die Bäume in ihre Zuckermoleküle ein, die Forscher können sie nun als Marker nutzen. "So können wir feststellen, wie schnell der Zucker wandert, der bei der Photosynthese hier in den Blättern entsteht", erklärt Goisser.

Das Kranzberger Roof-Experiment ist auf insgesamt zehn Jahre angelegt. Aber schon jetzt liegen erste Ergebnisse vor. "Die Buche ist eher ein Draufgänger", fasst Goisser zusammen. "Sie hält auch bei Trockenheit ihre Spaltöffnungen relativ weit offen, transpiriert Wasser, nimmt Kohlendioxid auf und betreibt Photosynthese." Dabei läuft sie aber Gefahr, dass oben mehr verdunstet als unten nachkommt. In diesem Fall reißen die Wasserfäden ab, in den Wasserleitungsgefäßen bilden sich Luftblasen.

Wie beim Menschen auch heißen sie Embolien. "Bei extremem Wassermangel verdurstet der Baum daher regelrecht", sagt Goisser. Fichten hingegen schließen bei Trockenstress ihre Spaltöffnungen und gehen in einen Ruhezustand. Sie können dann allerdings auch kein CO2 mehr aufnehmen, das der Ausgangsstoff für die Zuckergewinnung ist. Die Nadelbäume "hungern" also bei Dürre, werden immer schwächer und krankheitsanfälliger.

Die Wissenschaftler beobachteten aber auch, dass Buchen und Fichten im Mischbestand voneinander profitieren und sich gegenseitig stabilisieren. Sie wachsen schneller und können wesentlich besser mit längeren Trockenperioden umgehen. Wie das im Einzelnen funktioniert, wollen die Kranzberger Forscher in den nächsten Jahren herausfinden. Mit diesem Wissen sollen Forstwirte dann den Auswirkungen des Klimawandels gegensteuern können – etwa indem sie die Mischung von unterschiedlichen Baumarten optimieren. Michael Goisser ist überzeugt: "Durch ein kluges Kombinieren von Baumarten lassen sich die Auswirkungen von Trockenstress verringern. Fichtenmonokulturen werden im Zuge des Klimawandels in Deutschland weitgehend verschwinden."

Natürlich behandeln Forscher damit nur die Symptome. Besser wäre es, den Klimawandel zu stoppen, als sich mit neuen Baummischungen und anderen landwirtschaftlichen Anbaumethoden auf ihn vorzubereiten. Aber es könnte sein, dass uns gar keine andere Wahl bleibt. (bsc)