"Wir stellen die Klimawissenschaft quasi vom Kopf auf die Füße"

Seite 2: Entscheidungen anstoßen

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Auf ähnliche Weise können die Attributionsforscher auch untersuchen, ob und wie stark der Klimawandel die Intensität eines Ereignisses beeinflusst hat – bei einer Hitzewelle wären das zum Beispiel ihre Dauer oder die maximalen Temperaturen. Das Ziel ist, schon direkt nach einem Ereignis die Öffentlichkeit über den Anteil des Klimawandels zu informieren. Für Forscher, die heute rund um den Globus von Konferenz zu Konferenz reisen, bedeutet das mitunter, sich die Nächte mit dem Notebook auf dem Schoß in einem Hotelzimmer um die Ohren schlagen zu müssen. "Da ist es ganz gut, wenn man sich als Team schon länger kennt und nächtliche Brummigkeit nachsehen kann", sagt Friederike Otto.

Die schnelle Verfügbarkeit der Attributionsergebnisse dient aber auch dazu, Entscheidungen anzustoßen. "Schon kurz nach einer Hitzewelle, nach Waldbränden, Stürmen oder Überschwemmungen werden ja Entscheidungen für die Zukunft getroffen", sagt Frank Kreienkamp vom Deutschen Wetterdienst (DWD). Zum Beispiel, ob ein Hitzewarnsystem verbessert werden müsse, mit welchen Baumarten aufgeforstet werde oder an welchen Stellen man Gebäude wieder aufbaue. Auch für die Überarbeitung von Normen sei es wichtig zu wissen, welchen Belastungen technische Systeme in Zukunft ausgesetzt sind. "Die Attributionsforschung kann uns zeitnah sagen, in welchem Maß der Klimawandel für das Ereignis verantwortlich ist. Und damit auch, ob wir in Zukunft mit häufigeren und stärkeren Ereignissen genau dieser Art rechnen müssen."

Lernen würden die Menschen, so habe es ihm einmal ein Experte aus der Versicherungswirtschaft gesagt, offenbar nur aus Schäden. Kreienkamp hat sich deshalb früh mit der World Weather Attribution beraten sowie mit den englischen, holländischen und französischen Wetterdiensten in Verbindung gesetzt. Ihr gemeinsames Ziel: die unterschiedlichen Welten der Klimaforscher und der Wetterleute zusammenzubringen. Jahre hat es gedauert, bis die Pioniere der Zuordnungswissenschaft die Methoden entwickelt hatten, um langfristige Klimasimulationen auf die Untersuchung von kurzfristigen Wetterereignissen anzuwenden. "Dass man mit der Klimaforschung nicht nur etwas über die Zukunft lernen, sondern sie auch im Hier und Jetzt nutzen kann, setzt sich aber nur langsam durch", sagt Friederike Otto. Der DWD wird nun weltweit der erste Wetterdienst sein, der mit einer eigenen Arbeitsgruppe schon wenige Tage nach einem extremen Ereignis Zuordnungsstudien herausgibt. Geplant sind derzeit etwa fünf solcher Studien pro Jahr, noch 2020 soll es losgehen, die anderen Wetterdienste wollen bald nachziehen.

Die Schnelligkeit hat allerdings ihren Preis: Die Forscher sind gezwungen, zunächst auf den in der Wissenschaft üblichen Peer-Review-Prozess zu verzichten. Dabei begutachten andere, unbeteiligte Forscher die Qualität und Aussagekraft der Studien. Auch wenn diese Begutachtung später immer nachgeholt wird – Kritiker könnten einwenden, dass die Ergebnisse "mit heißer Nadel gestrickt" worden seien. Das ist gerade vor Gericht ein Problem, weil damit der Gegenseite eine offene Flanke präsentiert würde.

Umso wichtiger ist es für Attributionsforscher, ihre Gutachten wasserdicht zu machen und stets Werte an der unteren Grenze ihrer Abschätzungen zu kommunizieren – auch wenn Maximalwerte mehr Aufmerksamkeit bedeuten. Bei den australischen Waldbränden zum Jahreswechsel 2019/2020 verzichteten sie sogar auf eine Veröffentlichung direkt nach dem Ereignis, sondern gingen erst einen Monat später mit einem wissenschaftlichen Artikel an die Öffentlichkeit. Der Grund: Die Waldbrandgefahr wird mithilfe der Temperatur, der Luftfeuchte, des Niederschlags und der Windgeschwindigkeit bestimmt. Doch gerade bei der eigentlich einfach zu berechnenden Temperatur zeigten die elf verwendeten Klimamodelle keine einheitlichen Ergebnisse. Die Ursache dafür ist noch unbekannt. „Die realen Temperaturdaten der letzten 110 Jahre zeigen, dass die jüngste Hitzewelle am Anfang des 20. Jahrhunderts extrem unwahrscheinlich gewesen wäre“, sagt Friederike Otto. Der Einfluss des Klimawandels auf die Temperatur wird also mit großer Wahrscheinlichkeit in etlichen der elf Modelle unterschätzt – und damit auch der Effekt des Klimawandels auf die Waldbrandgefahr. Letztlich konnten die Forscher nur als Untergrenze angeben, dass sie durch den Klimawandel um mindestens 30 Prozent anstieg.

Andere Ergebnisse der Zuordnungsforschung sind da eindeutiger. Die Hitzewelle im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh im Jahr 2015 mit über 1800 Toten: doppelt so wahrscheinlich durch den Klimawandel. Die Regenfälle des Wirbelsturms Harvey in Houston an drei Tagen im August 2017, mit 1.000 Litern pro Quadratmeter: treten durchschnittlich zwar nur alle 9.000 Jahre auf, sind aber durch den Klimawandel dreimal so wahrscheinlich geworden.

Der Hurrikan Harvey forderte insgesamt 83 Todesopfer und verursachte einen Schaden von 125 Milliarden Dollar. Auch wenn die von der World Weather Attribution untersuchten Regenfälle nur einen Teil der Zerstörungskraft des Sturms ausgemacht haben – eine sichere Untergrenze von vielen Milliarden Dollar für den Schaden durch die Regenfälle ließe sich bestimmt finden. 2018 hat das neuseeländische Finanzministerium den Attributionsforscher David Frame beauftragt, die in den letzten zehn Jahren durch den Klimawandel auf der Insel entstandenen Kosten zu berechnen. Das Ergebnis: 840 Millionen Dollar allein durch den Anteil, den der Klimawandel an Überflutungen und Dürren hatte.

Frame verwendete eine einfache Formel, die eine Beratungsgruppe des Weltklimarats IPCC vorgeschlagen hatte und die auch aus der Epidemiologie bekannt ist, wenn eine Gruppe von Betroffenen und eine Kontrollgruppe miteinander verglichen werden sollen (siehe Kasten unten).

Formel der Schuld

A = 1 – W0/WK

A: Anteil des Klimawandels an einer Schadenssumme

W0: Wahrscheinlichkeit des Ereignisses in der simulierten Welt ohne Klimawandel

WK: Wahrscheinlichkeit in der Welt mit Klimawandel

Wenn zum Beispiel der Klimawandel die Wahrscheinlichkeit einer Dürre verdoppelt hat, beträgt der Faktor A gerade ½, das heißt, die Hälfte des Schadens durch die Dürre würde dem Klimawandel zugerechnet. Dass das sinnvoll ist, kann man sich an einem Beispiel überlegen: Wenn die Dürre ohne Klimawan-del im Schnitt einmal alle zehn Jahre auftreten würde, nun aber zweimal alle zehn Jahre auftritt, dann geht die zweite Dürre im Jahrzehnt "auf das Konto des Klimawandels". Deren Schadenssumme ist gerade die Hälfte des Gesamtschadens im Jahrzehnt.

Ganz konkrete Schäden des Klimawandels an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit lassen sich also nachweisen und beziffern. Doch wer soll nun dafür bezahlen? Richard Heede, der Gründer des Climate Accountability Institute in den USA, hat dazu eine klare Meinung. "In allen Ländern der Welt gilt die Regel, dass Firmen für die Unbedenklichkeit ihrer Produkte bei bestimmungsgemäßem Gebrauch verantwortlich sind. Entstehen trotzdem Schäden, müssen sie dafür haften", sagt er. Die Produzenten von Öl, Erdgas und Kohle könnten sich auch nicht damit herausreden, vom Risiko fossiler Energieträger für das Klima nichts gewusst zu haben. Als Beweis führt er einen Bericht aus dem Jahr 1965 an, der vom Science Advisory Committee des US-Präsidenten Lyndon B. Johnson stammt. Er wurde damals auch vom Interessenverband der US-amerikanischen Fossilindustrie lebhaft diskutiert und enthält eine denkwürdige Vorhersage: "Das Verbrennen von Kohle, Öl und Erdgas reichert die Erdatmosphäre in solchem Maß mit Kohlendioxid an, dass der dadurch veränderte Wärmehaushalt bis zum Jahr 2000 möglicherweise deutliche Veränderungen des Klimas bewirkt, denen regional oder auch national nicht mehr beizukommen ist."

Richard Heede begann vor über 15 Jahren, die Treibhausgasemissionen der Fossilindustrie seit dem Jahr 1882 bis heute zurückzuverfolgen. Diese Knochenarbeit in staubigen Archiven hat eine Rangliste der Emissionen ergeben, die durch verschiedene Peer-Review-Studien inzwischen als abgesichert gilt. An deren Spitze stehen die großen Ölfirmen wie Saudi Aramco oder Chevron. Auch die 0,5 Prozent Klimagasanteil von RWE in der Klage von Saúl Luciano Lliuya aus Peru entstammen dieser Liste.