"Wir stellen die Klimawissenschaft quasi vom Kopf auf die Füße"

Die Klimawissenschaftlerin Friederike Otto erhält den Deutschen Umweltpreis. Sie ist eines der Gesichter der Attributionsforschung.

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Es ist angerichtet

"Klimaklagen sind durchaus erfolgversprechend", sagt Friederike Otto vom Institut für Umweltveränderungen an der Universität Oxford.

(Bild: Geraint Lewis/Eyevine/Laif)

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Lesezeit: 20 Min.
Von
  • Wolfgang Richter
Inhaltsverzeichnis

"Wir stellen die Klimawissenschaft quasi vom Kopf auf die Füße", sagt Friederike Otto, Physikerin und geschäftsführende Direktorin des Instituts für Umweltveränderungen an der Universität Oxford. Sie ist Mitinitiatorin der Initiative World Weather Attribution und eines der Gesichter des Forschungszweigs der Attributionsforschung. 2017 konnte Otto nachweisen, dass der Klimawandel die damaligen Hitzewellen am Mittelmeer vermutlich 100-mal wahrscheinlicher gemacht hat, mindestens jedoch zehnmal wahrscheinlicher. Für die Gluthitze im letzten Juli in Westeuropa hat sie errechnet: 10- bis 100-mal so wahrscheinlich durch den Klimawandel. Otto wird für ihre Forschung in diesem Jahr mit dem Deutschen Umweltpreis ausgezeichnet. Sie erhält zusammen mit der Holzbau-Unternehmerin Dagmar Fritz-Kramer den mit 500.000 Euro dotierten Preis, der von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) verliehen wird.

Anlässlich der Auszeichnung veröffentlichen wir diesen Text, der aus der Ausgabe 7/2020 MIT Technology Review (als pdf erhältlich) stammt, erneut.

Klima ist das, was man erwartet, und Wetter ist das, was man bekommt. Weil das Wetter so launenhaft ist, haben Meteorologen bisher immer einen Standardspruch aufgesagt, wenn sie erklären sollten, ob an extremen Wetterereignissen wie Hitzewellen oder Überschwemmungen die Klimakrise schuld sei: "Der Klimawandel zeigt sich nur in langfristigen Trends, einzelne Ereignisse lassen sich nicht auf ihn zurückführen."

Doch der Satz gilt nicht mehr. In den letzten Jahren hat sich ein Wissenschaftsgebiet etabliert, dem genau diese Zuordnung gelingt – die Attributionsforschung. Sie revolutioniert nicht nur die Klimawissenschaft, sondern hat auch direkte Folgen für den Klimaschutz: Sie schließt das letzte Glied in der Beweiskette, um diejenigen Unternehmen vor Gericht zu bringen, die den Rohstoff für die Krise liefern. Chevron, Gazprom, ExxonMobil, BP und Shell, aber auch RWE und die Ruhrkohle AG müssten dann zahlen. Im Raum stehen Beträge in Milliardenhöhe für Schäden und Todesopfer durch Wirbelstürme, Waldbrände, Hitze, Dürren oder Starkregen.

Klima-Sonderheft von Technology Review

Die Attributionswissenschaft ist aber nur das eine Ende einer Kausalkette, die sich jetzt zeigt. Können Wissenschaftler bei einem extremen Wetterereignis zuordnen, um wie viel es durch den Klimawandel wahrscheinlicher oder auch schlimmer geworden ist, so lassen sich auch die entstandenen Schäden direkt mit dem Klimawandel verknüpfen. Diejenigen Unternehmen, die seit Jahrzehnten Kohle und Erdöl fördern und verkaufen, könnten nun in eine Produkthaftung geraten. Sozusagen als Schwesterwissenschaft der Zuordnungsfor-schung haben sich eine Reihe von Rechtsexperten Gedanken darüber gemacht, wie sich diese Haftung für die von Kohle und Öl verursachten Schäden in Gerichtsverfahren durchsetzen ließe. Die dabei auftretenden Fragen von Schuld und Verantwortung könnten zugleich dabei helfen, neue Klimagesetze zu etablieren.

Schon vor drei Jahren machte der peruanische Bauer und Bergführer Saúl Luciano Lliuya Schlagzeilen, als er mit Unterstützung der Umweltorganisation Germanwatch den Energiekonzern RWE verklagte. Lliuya wohnt in den Anden unterhalb eines Gletschersees, in den immer wieder große Eisbrocken stürzen. Durch die Erderwärmung schmilzt der Gletscher schneller, der Wasserspiegel steigt, und größere Brocken brechen ab. Eines Tages könnte ein besonders schwerer den See überlaufen lassen und eine verheerende Flutwelle auslösen. Verhindern würde das eine Schutzmauer, und auf die Kosten für deren Errichtung hat Lliuya RWE als großen Produzenten von Kohlendioxid nun verklagt. Genauer gesagt auf den entsprechenden Anteil von RWE an den gesamten Klimagasen weltweit: knapp 0,5 Prozent oder umgerechnet 17.000 Euro.

Das Oberlandesgericht in Hamm hat in einer mündlichen Verhandlung erklärt, dass Lliuyas Ansprüche grundsätzlich berechtigt seien und RWE damit haften müsse, sollten sich die von den Klägern vorgetragenen Fakten als richtig erweisen. Momentan verhandelt das Gericht mit den peruanischen Behörden, ob ein Ortstermin für die Beweisaufnahme möglich wäre. "Das zeigt, dass Klagen durchaus erfolgversprechend sind", sagt Friederike Otto. Das befürchtete Extremereignis eines großen Gletscherabbruchs ist hier allerdings noch nicht eingetreten. RWE würde daher nicht für einen entstandenen Schaden haften, sondern für die Beseitigung einer drohenden Gefahr.

Wie aber sähe eine durchgehende Beweiskette aus? Die World Weather Attribution hat dafür bestimmte Regeln festgelegt: Zunächst entscheiden die Forscher, welche Parameter für das Ereignis wichtig sind. Zum Beispiel die Temperatur bei der Untersuchung einer Hitzewelle. Danach definieren sie, welches Gebiet sie genau untersuchen wollen, etwa den europäischen Mittelmeerraum. Auch die Dauer des Ereignisses, die während des Ereignisses aufgenommenen Wetterdaten sowie etwaige weitere besondere Umstände werden genau festgehalten. Anschließend besorgen sich die Wissenschaftler so viele historische Wetterdaten aus dem gewählten Gebiet wie möglich, bei den Hitzewellen in Europa wären das die Temperaturmessungen vom Anfang der Aufzeichnungen im Jahr 1900 bis heute.

Die Klimamodelle berechnen mögliches Wetter anhand von physikalischen Gleichungen und dabei Randbedingungen wie Treibhausgaskonzentrationen oder Daten über die Landnutzung berücksichtigen. Mit den historischen Wetterdaten überprüfen die Forscher nun, welche Modelle tatsächlich das reale Wettergeschehen der vergangenen 120 Jahre gut simulieren können. "Wenn sie das nicht tun, können wir sie für diese Attributionsstudie auch nicht verwenden", erklärt Otto. Mit den verbliebenen Klimamodellen simuliert Otto nun das Wettergeschehen im betrachteten Gebiet – und zwar über den Zeitraum hinaus, aus dem die realen Wetterdaten stammen. Über viele Jahrhunderte oder gar Jahrtausende berechnet, zeigt sich, wie häufig große Ausschläge nach oben oder unten sind, also die extremen Ereignisse, auf die es die Attributionsforscher abgesehen haben. Hitze- oder Kältewellen zum Beispiel. Erst seit ein paar Jahren stehen die Rechenkapazitäten für solche langen Modellläufe zur Verfügung.

Nun kommt der eigentliche Trick: Die Klimamodelle lassen sich auch so einstellen, dass sie genau die gleiche Welt simulieren, nur ohne den menschengemachten Anstieg der Treibhausgase. Die Klimaforscher nennen das die "kontrafaktische Welt". Und auch in dieser Welt lassen sich für die großen Abweichungen von der Norm die Häufigkeiten berechnen.

Mehr Infos

10- bis 100-mal

wahrscheinlicher machte der Klimawandel die Gluthitze im Juli 2021 in Westeuropa.

30 Prozent

wahrscheinlicher sind die australischen Waldbrände zum Jahreswechsel 2019/2020 durch den Klimawandel geworden – mindestens.

2-mal

wahrscheinlicher wurde die Hitzewelle im indischen Bundesstaat Andhra Pradesh im Jahr 2015 mit über 1.800 Toten.

3-mal

wahrscheinlicher machte der Klimawandel die starken Regenfälle während des Wirbelsturms Harvey in Houston. An drei Tagen fielen 1.000 Liter pro Quadratmeter. Der Hurrikan forderte 83 Todesopfer und verur-sachte einen Schaden von 125 Milliarden Dollar.

17.000 Euro

will der peruanische Bauer und Bergführer Saúl Luciano Lliuya vom Energiekonzern RWE einklagen, weil ein Gletschersee durch die Erderwärmung überzulaufen droht.

840 Millionen

Dollar Schaden hat der Klimawandel durch Überflutungen und Dürren in den letzten zehn Jahren in Neuseeland verursacht.

"Wenn man nun die Häufigkeit eines bestimmten extremen Ereignisses in den Simulationen mit und ohne Klimawandel vergleicht, kann man feststellen, wie stark der Klimawandel dazu beigetragen hat, dass genau dieses Ereignis jetzt tatsächlich eingetreten ist", erklärt Friederike Otto. Ganz wichtig sei hier, dass es eben nicht um eine generelle Aussage gehe, dass zum Beispiel Hitzewellen durch den Klimawandel häufiger vorkommen. "Dadurch, dass wir am Anfang anhand des tatsächlich stattgefundenen Ereignisses genau definieren, nach was wir in den Simulationen suchen wollen, erhalten wir anschließend auch konkrete Aussagen über genau dieses Ereignis."

Dabei kann herauskommen, dass der Klimawandel das Ereignis wahrscheinlicher gemacht hat – oder auch unwahrscheinlicher. Oder dass er gar keinen Einfluss hatte. "Manchmal, wie etwa bei einer von uns untersuchten Dürre in Brasilien, heben sich auch zwei gegenläufige Effekte des Klimawandels gerade auf", erzählt Otto. Hier habe der Treibhauseffekt sowohl Niederschläge wie auch Verdunstung begünstigt, und das Dürrerisiko sei deshalb gleich geblieben.