"Wir stellen die Klimawissenschaft quasi vom Kopf auf die Füße"

Seite 3: "Klagen hätten trotzdem eine Chance"

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Es bleibt die Frage, ob der Hersteller von fossilen Brennstoffen für deren Emissionen verantwortlich ist, oder die Nutzer, bei Erdölkonzernen also die Autofahrer. Heede rechnet wegen der von ihm angenommenen Produkthaftung auch jeden weltweit gefahrenen Kilometer mit Chevron-Kraftstoff diesem Unternehmen zu – und nicht nur die Emissionen, die bei der Förderung und Verarbeitung des Öls durch Chevron entstehen.

RWE ist hier ein Spezialfall: Einerseits verbrennt das Unternehmen Kohle, um daraus Strom zu erzeugen, emittiert also selber Kohlendioxid in großen Mengen. Andererseits fördert RWE auch Braunkohle in den Tagebauen Garzweiler, Hambach und Inden, unter anderem mit dem größten Bagger der Welt. Die angenommene Produkthaftung und die eigentliche Einbringung von Klimagas in die Atmosphäre fallen hier also zusammen. Den Klägern vor dem Gericht in Hamm dürfte das vermutlich viel Argumentationsarbeit ersparen.

Wenn Richter nur rauchende Schornsteine als Ursache des Klimawandels anerkennen, würde es komplizierter. Denn welches Unternehmen wie viel Klimagas ausgestoßen hat, ist oft schwer zu ermitteln. Klagen hätten trotzdem eine Chance, glaubt die Klimaanwältin und Regierungsberaterin Lindene Patton von der Kanzlei Earth & Water in Washington. Zurückgreifen könnte man etwa auf Daten aus dem Emissionshandel. Sie dokumentieren offiziell den Anteil eines jeden Unternehmens an den Gesamtemissionen. In der EU beispielsweise ist das zumindest für bestimmte Branchen der Fall. "Damit wird auch bewiesen, dass jede Emission gleichwertig ist, sonst würde der Handel ja gar nicht funktionieren", erklärt Patton. Diese Gleichwertigkeit der Emissionen sei die Voraussetzung dafür, dass Richter in den USA bei Klimaklagen Analogien zu Gerichtsurteilen gegen Pharmafirmen ziehen könnten. Wenn hier bei Pillen von unterschiedlichen Herstellern mit gleichem Wirkstoff nicht klar war, welche Tabletten den Schaden bei einem Patienten ausgelöst haben, so mussten alle Firmen gemäß ihrem Marktanteil haften.

Aber kann ein Unternehmen für etwas haftbar gemacht werden, das nicht nur erlaubt ist, sondern eben durch den Emissionshandel sogar von staatlicher Seite kontrolliert wird? Tatsächlich beinhaltet das deutsche Emissionsschutzgesetz einen Passus, der explizit klarstellt, dass auch bei vorhandener Genehmigung private Schadenersatzansprüche aufgrund von Emissionen nicht ausgeschlossen sind. Und Lindene Patton verweist auf einen aktuellen Fall in den USA, wo sich der Stromkonzern PG&E in einem gerichtlichen Vergleich schuldig bekannt hat, 84 Menschen fahrlässig getötet zu haben. Sie kamen bei einem Waldbrand ums Leben, den veraltete Stromleitungen von PG&E ausgelöst hatten – die jedoch bei regelmäßigen Überprüfungen der Behörden nie beanstandet wurden.

Staatliche Überwachung und Einhaltung der Gesetze schützen also nicht vor Haftungsansprüchen. Trotzdem ist längst nicht sicher, ob sich Gerichte bei einem Klimaprozess aufgrund von Attributionsstudien von der individuellen Verantwortung eines Unternehmens überzeugen ließen. "Schon bei den Prozessen um die Waldschäden in den 80er-Jahren hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass allgemeine Luftverunreinigungen nicht einzelnen Emittenten zugeordnet werden können", sagt der Rechtsanwalt Alexandros Chatzinerantzis von der Kanzlei Linklaters in Frankfurt am Main, der die großen Player der Energiewirtschaft in Prozessen vertritt. Und dabei seien damals die Schadstoffe in räumlicher Nähe zu den geschädigten Waldflächen emittiert worden, nicht wie beim Klimawandel möglicherweise am anderen Ende der Welt. Ungeklärt sei außerdem die Frage, ob man die Emissionen von Treibhausgasen über Jahrzehnte aufsummieren könne, wenn die Verjährungszeit von Schadenersatzansprüchen im deutschen Zivilrecht drei Jahre betrage. "Und wo ziehe ich die Grenze bei den vielen kleinen Emittenten, etwa Nutzern von Kraftfahrzeugen oder einzelnen Vielfliegern?", fragt Chatzinerantzis. Letztlich führe dies zu einer Haftung von allen.

Zumindest das letzte Argument glaubt die Rechtswissenschaftlerin Petra Minnerop von der Universität von Dundee entkräften zu können: "Natürlich gibt es in der Rechtsprechung Signifikanzschwellen, das ist allgemein anerkannt." Ein Kampf aller gegen alle, weil jeder Leidtragender und Verursacher der Klimakrise ist, drohe also nicht. Tatsächlich plädiert sie aber dafür, das logische Verständnis von Kausalität an die Problematik des Klimawandels anzupassen. "In anderen Fällen, wie etwa bei Verfahren gegen die Tabak- und Asbestindustrie, hat man dies bereits getan", sagt die Expertin für internationales Umweltrecht. "Immer mit dem Ziel, Fairness und Gerechtigkeit, die das Gesetz vorschreibt, sicherzustellen."

Minnerops Vorschlag basiert auf Gedanken des US-amerikanischen Informatikers und Philosophen Judea Pearl. Er hat ein logisches Argument mit dem Namen Sustenance entwickelt, das man vielleicht mit "Erhaltungs-Kausalität" übersetzen könnte und das an das Kriminalstück "Mord im Orient-Express" von Agatha Christie erinnert. Im Orient-Express haben alle Passagiere mit dem Messer einmal auf ihr Opfer eingestochen. Nehmen wir an, jeder hätte mit dem Messer so zugestoßen, dass der Mann auch ohne diesen einen Stich gestorben wäre. In einem Gerichtsprozess würde überprüft, ob die Handlung jedes Angeklagten kausal war für den Tod des Opfers. "Das ist dann der Fall, wenn es ohne die Handlung nicht zum Tod gekommen wäre", sagt Petra Minnerop. "Dieses Kriterium trifft hier aber auf keinen der Täter zu." Trotzdem würde es zu einer Verurteilung kommen, denn alle haben mitgemacht und waren sich über die Konsequenzen ihres Handelns bewusst. "Das Strafrecht hilft sich hier, indem es auf die Mittäterschaft und den gemeinsamen Vorsatz abhebt. Im Zivilrecht und bei legalen Handlungen könnte in ähnlicher Weise die Sustenance angewandt werden."

Übersetzt in die Welt der Klimakrise hieße dies: Wer signifikant Klimagase emittiert, tut das im vollen Bewusstsein der Konsequenzen. Und selbst wenn ein Klimaschaden auch ohne diesen einen Emittenten eingetreten wäre, so hat er doch mit seinen Emissionen das gesamte System, das erst zu diesem Schaden geführt hat, am Laufen gehalten.

Petra Minnerop hat ihren Vorschlag zusammen mit Friederike Otto in einer Veröffentlichung detailliert dargelegt. Sie soll Gerichten eine Entscheidungshilfe bieten bei der noch ausstehenden ersten Klage auf Grundlage einer Attributionsstudie. Denn dass diese kommen wird, halten beide für sicher. "Noch besser wäre es allerdings, wenn aus diesen Überlegungen heraus der Gesetzgeber die großen Emittenten in die Verantwortung nimmt", sagt Minnerop. Denn viele Schäden durch den Klimawandel würden in sehr armen Ländern entstehen. "Dort aber sind die für die Zuordnungsstudien nötigen Wetterdaten meist nicht vorhanden und Gerichtsverfahren damit schwierig zu führen."

(grh)