Edit Policy: Coronavirus und das Europaparlament – nicht digital genug

Seite 2: Aus der Krise lernen

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Welche Lektionen können wir also in der aktuellen Lage für die Modernisierung des Parlamentsbetriebs lernen? Präsenz muss da sichergestellt werden, wo es für die Sicherheit und Vertraulichkeit von Abläufen erforderlich ist. Im Europaparlament gilt das insbesondere für geheime Abstimmungen, die aber selten sind und gebündelt zu bestimmten Terminen stattfinden können, um in der derzeitigen Situation die Zahl der anwesenheitspflichtigen Sitzungen zu verringern. Bei geheimen Abstimmungen und Wahlen ist Digitalisierung absolut das falsche Mittel, hier kann zuviel schiefgehen. Ein spektakuläres Negativbeispiel war etwa die Präsidentschaftsvorwahl der Demokraten im US-Bundesstaat Iowa, bei der die App eines windigen Softwareherstellers für Chaos sorgte.

Ironischerweise finden bereits heute viele geheime Abstimmungen im Europaparlament elektronisch statt, auch wenn sie Anwesenheit im Plenarsaal erfordern. In Ermangelung eines Paper Trails ist bereits jetzt die Authentizität der Abstimmungsergebnisse für die einzelnen Abgeordneten nicht sicher zu überprüfen. Eine Ausnahme stellt etwa die Wahl der Parlamentspräsident*innen dar, die auf Papier stattfinden.

Öffentliche Abstimmungen sollten grundsätzlich elektronisch und namentlich sein, um die Transparenz der parlamentarischen Arbeit zu erhöhen. Der Status Quo, bei dem die meisten Abstimmungen im Europaparlament per Handzeichen entschieden werden, öffnet Manipulation Tür und Tor: Regelmäßig tauchen zu Ausschussabstimmungen etwa zu viele Abgeordnete einer bestimmten Fraktion auf und heben die Hand. Das fällt nur dann auf, wenn jemand explizit eine elektronische Abstimmung einfordert. Oftmals sind die Mehrheiten außerdem so knapp, dass auch die aufmerksamste Sitzungsleitung Ergebnisse falsch einschätzt. Zwar ist eine Kontrolle in solchen Fällen möglich, aber auch die findet meist nur statt, wenn Abgeordnete aufmerksam genug sind, sie zu beantragen.

Das alles ließe sich vermeiden, wenn öffentliche Abstimmungen grundsätzlich elektronisch wären. Zwar hat jedes technische System auch potentielle Schwachstellen, aber eine Verbesserung gegenüber dem jetzigen System wäre es allemal. Eine Teilnahme an namentlichen Abstimmungen über eine geschützte Internetverbindung sollte in begründeten Fällen möglich sein, weil dann eine Nachprüfbarkeit des Ergebnisses sowohl durch die Abgeordneten als auch durch die Öffentlichkeit möglich ist. Bei längeren Abwesenheiten sollte eine Vertretungsregelung wie in Island eingeführt werden.

Um auch im Home Office und bei reduziertem Sitzungsbetrieb die Arbeitsfähigkeit des Parlaments aufrecht zu erhalten, muss viel stärker als bisher auf digitale Lösungen gesetzt werden. Anders als in den Räumlichkeiten des Europaparlaments steht den meisten Abgeordneten und Parlamentsangestellten zuhause keine sichere IT-Infrastruktur zur Verfügung. Sensible Dokumente werden noch mehr als bisher per E-Mail ausgetauscht. Alle werden für den Zugriff auf ihre Parlaments-Mailadressen zur Verwendung von Microsoft Outlook gezwungen, PGP-Verschlüsselung wird standardmäßig nicht angeboten. Abgeordnete, die auf verschlüsselte Kommunikation bestehen, sehen sich mit viel Bürokratie konfrontiert und weichen meist auf alternative Lösungen wie Signal aus, die vom Europaparlament nicht offiziell bereitgestellt werden.

Physische Tokens zur Authentifizierung werden zwar ausgegeben, aber sind rationiert, möglicherweise weil sonst höhere Lizenzkosten beim Anbieter anfallen, sodass Abgeordnetenbüros ihre Token im Team untereinander austauschen und schnell den Überblick verlieren. Aktuell ist auch aus dem Bundestag zu hören, dass zahlreiche Mitarbeiter*innen nicht mit Token ausgestattet waren und jetzt, da plötzlich fast alle von zuhause arbeiten müssen, nicht genügend vorrätig sind. Was beim vernetzten Arbeiten öffentlicher Einrichtungen aus Perspektive der IT-Sicherheit sonst noch so schiefgehen kann, hat kürzlich das bayrische Innenministerium demonstriert, dessen Videokonferenzen bis vor Kurzem ohne Passwort frei über das Internet zugänglich waren.

Parlamente und öffentliche Verwaltungen sollten allein schon aus Sicherheitserwägungen bei ihrer IT auf freie Software setzen und öffentliche Aufträge in möglichst kleine Module aufteilen. Das vermeidet, dass sich die öffentliche Hand dauerhaft an einen bestimmten Anbieter bindet und auch dann nicht wechseln kann, wenn dieser schlechte Arbeit leistet oder sich als nicht vertrauenswürdig erweist. Durch die Modularisierung von Projekten sinkt das Risiko, dass Millionen in einem fehlgeleiteten Produkt versenkt werden. Außerdem kann das öffentliche Vergabeverfahren weniger bürokratisch gehandhabt werden, um auch dem Mittelstand realistische Chancen zu geben, öffentliche Aufträge zu gewinnen.

Die Projektaufsicht muss dabei in öffentlicher Hand verbleiben und darf auf keinen Fall komplett ausgegliedert werden. Wie es auch in der Wirtschaft absolut üblich ist, müssen Auftragnehmer regelmäßig brauchbaren Code liefern, damit die Projektleitung die Qualität überprüfen und schnell nachjustieren kann, wenn die Technik nicht praxistauglich ist. Parlamentssoftware muss im direkten und regelmäßigen Austausch mit den Personen, die die Software einsetzen, entwickelt und getestet werden. Oftmals sind das nicht in erster Linie die Abgeordneten selbst, sondern ihre persönlichen Mitarbeiter*innen und Fraktionsangestellte. Abgeordnete sind durch Termine, Pressearbeit und die Betreuung unterschiedlichster Politikfelder zeitlich sehr ausgelastet und auf personelle und technische Unterstützung ihrer Abgeordnetentätigkeit absolut angewiesen. Öffentliche IT-Projekte haben vor allem dann Erfolg, wenn sie die Personen einbinden, die die Technik im Alltag nutzen müssen – das sind selten diejenigen, die in der Hierarchie ganz oben stehen.

Das Europaparlament sollte insgesamt weniger auf physische Anwesenheit setzen und etwa das altmodische Tagegeld, das Abgeordnete für die Anwesenheit in Brüssel belohnt, abschaffen oder in die monatlichen Abgeordnetenbezüge überführen. Denn Präsenz allein ist ein schlechter Indikator dafür, ob jemand sein Mandat ausfüllt – auch die Anwesenheit im Wahlkreis, die Ansprechbarkeit über soziale Medien oder die Teilnahme an Konferenzen sind wichtige Aspekte der politischen Arbeit. Oft wird etwa bemängelt, wie wenige Abgeordnete bei Plenardebatten anwesend sind, dabei wird aber übersehen, dass ein Großteil der eigentlichen politischen Arbeit außerhalb der offiziellen Sitzungen in Verhandlungsrunden, Telefongesprächen und im schriftlichen Austausch stattfindet.

Statt stumpf auf ständige Präsenz zu setzen, müssen Abgeordnete während ihrer Reisetätigkeit und in ihrer digitalen Kommunikation besser technisch unterstützt und geschützt werden. Verschlüsselung, VPN-Zugänge zu allen wichtigen Systemen des Parlaments und der Fraktionen sowie sichere Dienst-Endgeräte sollten dabei längst Standard sein. Außerdem müssen unnötige Standortwechsel, allen voran die Pendelei nach Straßburg, endlich abgeschafft werden.

Die Texte der Kolumne "Edit Policy" stehen unter der Lizenz CC BY 4.0. (mho)