Kommentar: 10H ist die neue PKW-Maut

Die Argumente, mit denen Markus Söder die bayerische Abstandsregel für Windräder verteidigt, werden immer bizarrer.

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Windkraft im Bremer Blockland.

(Bild: heise online / anw)

Lesezeit: 6 Min.
Inhaltsverzeichnis

Wir schreiben das Jahr 2022. Ganz Deutschland macht sich Gedanken, wie es die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen senken kann. Ganz Deutschland? Nein, nicht ganz. Im Südosten wehrt sich ein einsamer Häuptling immer noch mit Händen und Füßen dagegen.

Die bayerische 10H-Regel besagt, dass Windkraftanlagen den zehnfachen Abstand ihrer Höhe vom nächsten Wohngebäude haben müssen. Das können bei modernen Anlagen schon mal zwei Kilometer sein. Damit bleibt kaum noch Platz für neue Standorte.

Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder hält die Regel offenbar für ein unbedingt schützenswertes Symbol bajuwarischer Folklore. Nur so ist es zu erklären, dass er zu immer bizarreren Argumenten zu deren Verteidigung greift. „Die #Ampel muss die Voraussetzungen für einen Ausbau der #Wasserkraft schaffen“, twitterte er kürzlich. „Beim Wind muss der #Bund die Regeln an die Realität anpassen. Das Problem ist nicht 10H, sondern dass wir Südländer die Betreiber beim Bau von Anlagen in schwierigen Regionen nicht unterstützen dürfen.“

Ziemlich viel verworrenes Zeug für einen einzigen Tweet. Aber der Reihe nach. Warum wohl entdeckt Söder auf einmal sein Herz für die Wasserkraft? Klar: Das ist ein lupenreiner Whataboutism. „Baut mehr Windräder!“ – „Aber was ist mit Wasserkraft?“

Das allein ist natürlich kein Argument gegen Wasserkraft – aber ein ziemlich durchsichtiges Ablenkungsmanöver. Laufwasser ist ein zuverlässiger, aber auch relativ unbedeutender Bestandteil des deutschen Strommixes. 2021 erzeugte es gut 13 Terawattstunden Strom. Alleine die Offshore-Windparks produzierten fast doppelt so viel.

Zudem lässt sich Wasserkraft nicht beliebig ausbauen: Neue Stauwehre und Wasserturbinen in Flüssen verändern deren Ökosystem. Das bei der Windkraft oft beklagte Spannungsverhältnis zwischen Umwelt- und Klimaschutz finden wir also auch hier. Zudem sind Wasserkraftwerke auf viel Wasser und großes Gefälle angewiesen. Was genau sollte der Bund also Söders Meinung nach tun? Höhere Berge aufschütten? Neue Flüsse anlegen? Regenwolken in den Alpenraum umleiten?

Weiter geht’s: „Beim Wind muss der #Bund die Regeln an die Realität anpassen.“ Welche Realität hat Söder damit gemeint? Dass er 2023 eine Landtagswahl gewinnen möchte? Dass ihm deshalb die Stimmung an bayerischen Stammtischen wichtiger ist als Klima und Ukraine-Krieg?

Dass er jedenfalls in einer deutlich anderen Realität unterwegs ist als der Rest der Republik, belegt der nächste Satz: „Das Problem ist nicht 10H, sondern dass wir Südländer die Betreiber beim Bau von Anlagen in schwierigen Regionen nicht unterstützen dürfen.“

Ein Kommentar von Gregor Honsel

Gregor Honsel ist seit 2006 TR-Redakteur. Er glaubt, dass viele komplexe Probleme einfache, leichtverständliche, aber falsche Lösungen haben.

Doch. Das Problem ist 10H. Nach Einführung der Regel im Jahr 2014 implodierte die jährlich installierte Leistung von mehr als 400 Megawatt auf weniger als ein Zehntel. Ganze sechs Windräder gingen 2021 im Freistaat zusätzlich ans Netz – und das wohlgemerkt im flächenmäßig größtem Bundesland. „Wären die Regelungen bundesweit so streng wie in Bayern, dürfte es mindestens 71 Prozent der Windräder in Deutschland gar nicht geben“, hat der Spiegel berechnet. (Den letzten Halbsatz aus Söders Tweet kann ich nicht interpretieren, weil ich nicht weiß, was Söder mit „Anlagen“ meint: Wind oder Wasser?)

Um vor dem Rest Deutschlands nicht als gar so bockig dazustehen, improvisierten die CSU und ihr Koalitionspartner, die Freien Wähler, einen Kompromiss, der ihnen absehbar auch wieder um die Ohren fliegen wird: Neue Windkraftanlagen sollen vor allem im Wald gebaut werden, besonders in den Staatsforsten.

Ob Windräder im Wald wirklich Landschafts- oder Umweltfrevel sind, hängt stark vom Wald ab, wie dieser Thread am Beispiel des hessischen Reinhardswalds klarmacht. Allerdings zeigt der Fall auch, dass sich am Widerstand der Bevölkerung dadurch wenig ändert: Je weiter Windräder von Siedlungen ferngehalten werden, desto eher stehen sie in einer mehr oder weniger natürlichen Landschaft, wo sie ebenfalls (oder noch stärker) als störend empfunden werden.

Ergänzend dazu macht Markus Söder nun wieder das, was Politiker immer tun, wenn sie sich energiepolitisch den Pelz waschen möchten, ohne sich nass zu machen: Er fordert mehr Wasserstoff. „Um den Süden als Industrieregion zu stärken, sei die Planung von Pipelines über Italien nach Norden wichtig“, berichtet die dpa über Söders Pläne. „Es müsse auf der ganzen Welt nach Alternativen gesucht werden, damit neue Partnerschaften erschlossen werden könnten.“ Damit verlagert Söder das aktuelle Problem in andere Länder beziehungsweise in die Zukunft. Vielleicht reicht es ja, um sich irgendwie bis zur Landtagswahl durchzuhangeln.

Die Parallelen zwischen 10H-Regel und der PKW-Maut sind nicht zu übersehen: Beide dienen erkennbar keiner Lösung eines konkreten Problems, sondern sind unverhohlener Populismus.

Mit beiden Vorhaben nimmt die CSU die gesamte Republik in Geiselhaft – bei der Autobahnmaut hinterlässt sie den Steuerzahlern voraussichtlich Kosten in dreistelliger Millionenhöhe, bei der Windkraft sabotiert sie eine zentrale Säule der Energiepolitik.

Die Maut endete in einem Desaster für die CSU. Wenn Söder nun keine besseren Argumente einfallen, könnte sich die Geschichte wiederholen. Denn die 10H-Regelung beruht auf einer Ausnahme im Bundesbaugesetz, die der Bund – auch ohne Zustimmung des Bundesrats – streichen könnte.

Vielleicht hofft Söder, in diesem Fall den tragischen Helden geben zu können, der für Bayern gekämpft hat, aber leider am bösen Bund gescheitert ist. Vielleicht kommt er beim Wahlvolk damit sogar durch. Vielleicht sehen die Bürger in ihm dann aber auch nur einen Wirrkopf, der mit Anlauf immer wieder vor die gleiche Wand läuft.

(grh)