Kommentar: Der lange Winter des Pikachu

Viele Spieler mögen längst abgesprungen sein, aber Gerald Himmelein hält Pokémon Go weiterhin die Stange – wenn auch mit eisesstarren Fingern. Eine Zwischenbilanz nach sechs Monaten und 2037 Taubsis.

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Der lange Winter des Pikachu
Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Gerald Himmelein
Inhaltsverzeichnis

"Wie, du spielst das noch?", bekomme ich immer wieder zu hören, wenn Leute auf meinem Smartphone die freundlich-grüne Landkarte von Pokémon Go sehen. Dabei ist das noch die freundliche Version. "Pokémon ist doch sowas von out!" Wie kann man nur so hinter dem Mond sein, das trotzdem noch zu spielen. Noch dazu bei diesem Wetter.

Tatsächlich hat sich Pokémon Go vom Hype-Spiel zu einer Minderheitenbeschäftigung zurückgebildet. Im August wusste ich: Wenn vor mir einer immer wieder stehen bleibt, dann fängt der grad Taubsis. Wenn jetzt jemand vor mir konzentriert auf sein Handy starrt, wischt er vermutlich wieder nur Tinder-Matches aus dem Weg.

Ein Kommentar von Gerald Himmelein

Gerald Himmelein schreibt seit 1998 für die c't und heise online. Er beschäftigt sich mit Dingen, die einem auf den Fuß (Hardware) ebenso wie mit Dingen, die einem auf die Nerven fallen können (Software). Also von Grafiktabletts und Tastaturen über Malprogramme und 3D-Grafik bis hin zu Windows-Troubleshooting.

Diese Entwicklung kommt mir nicht ganz unwillkommen. Andere Spieler zu treffen, macht Spaß, aber die Herdenveranstaltungen im Sommer konnten mich nie anziehen. Mittlerweile findet der Austausch mit Mitspielern vor allem online statt.

Auf diesem Weg habe ich mir inzwischen den korrekten Wortschatz angeeignet und weiß Garados strategisch einzuschätzen. Ein Kollege trinkt sich strategisch durch alle verfügbaren Biersorten, ich denke mir Eselsbrücken für Arena-Kampfstrategien aus. Keiner von uns würde mit dem anderen tauschen wollen. Muss ja auch nicht.

Immer wieder verblüfft mich, welche Feindseligkeit dem Spiel mittlerweile entgegenschlägt. Eines Abends hat tatsächlich ein wildfremder Mann versucht, mir das Smartphone aus der Hand zu schlagen, wobei er "Du bist süchtig!" schrie. Dann wollte er unbedingt eine Tätowierung an seinem Handgelenk zeigen, bevor er fragte, ob ich schwul sei und wenn nicht, warum ich dann an dieser Ecke herumstünde. All das mitten in einem Arenakampf. Ich weiß immer noch nicht, ob der Mann irgendwo entsprungen war. Vielleicht gehörte er auch zum gelben Team und wollte verhindern, dass ich seine Arena übernahm. (Hat nicht geklappt.)

Ist der Arbeitsplatz gefährliches Gelände oder nicht?

Manchmal habe ich sogar den Eindruck, dass mich das Spiel selbst zum Aufgeben bringen will. Bei jedem Start erscheint eine andere Ermahnung. "Betritt beim Spielen von Pokémon Go kein gefährliches Gelände" kommt verdächtig häufig am Arbeitsplatz. Immer wieder kommt die Warnung "Du bewegst Dich zu schnell" – gern auch beim Essen in der Kantine, wenn Fehler bei der GPS-Positionierung die Spielfigur quer durch die Nachbarschaft jagen.

Und dann das Wetter. Pokémon Go ist ein Spiel, das man nur draußen spielen kann, für das man in Bewegung bleiben muss. Zwischendurch muss man aber auch stehenbleiben – um Pokéstops abzuernten, wilde Pokémon zu fangen, Arenen zu erobern oder zu stärken. Definitiv nix für kalte Tage.

Die Entwickler geben ihr Möglichstes, die verbliebenen Spieler der nördlichen Halbkugel trotzdem bei Laune zu halten. Mittlerweile gibt es einen Bonus für das erste gefangene Pokémon des Tages, den ersten gedrehten Pokéstop des Tages und Bonus-Boni für sieben Tage am Stück. Es gab ein Halloween-Event mit Gruselmonstern, ein Thanksgiving-Event mit Bonuspunkten und in ein paar Tagen beginnt ein Weihnachts-Event mit – wenn die Gerüchte stimmen – Geschenken.

Das Wetter hält dagegen. Mittlerweile bin ich beim vierten Paar Touchscreen-Handschuhe angekommen. Das erste war total bequem und prima fürs Spiel – aber nicht winddicht. Brr. Das zweite Paar war winddicht und bequem, aber trotzdem viel zu dünn. Bibber. Die dritten Handschuhe waren dicker und weniger gut für den Touchscreen – aber die Fingerkuppen wurden immer noch taub. Au.

Jetzt trage ich ein vierfach gefüttertes Paar, bei dem sich die letzten drei Finger eine Ausbuchtung teilen müssen. Hier ist der Touchscreen-Finger zu unzuverlässig, um damit auch nur ein Taubsi zu fangen. Deshalb dirigiere ich notgedrungen einen Touchscreen-Stift. Mit den blöden Handschuhen. Wenn ich auf diesem Weg eine halbe Stunde lang eine rote Arena niederkämpfe, verkrampfen sich die Finger immer noch vor Kälte.

Für die Weihnachtszeit haben die Entwickler Pikachu eine rote Mütze übergestülpt.

Es ist ein hartes Los, im Winter Pokémon Go zu spielen. Aber ... ohne würde mir was fehlen. So habe ich stets einen Ansporn, in Bewegung zu bleiben. Trotz Temperaturen um den Nullpunkt fahre ich auf dem Rad zur Arbeit – damit die gesammelten Pokémon-Eier schneller schlüpfen. Noch im Spätsommer habe ich zudem meine Frau mit dem Spiel angesteckt. Jetzt steigen wir selbst bei kaltem Nieselregen eine Haltestelle früher aus oder gehen zu Fuß, wohin wir früher zwei Stationen gefahren wären. Egal wie lausig das Wetter ist, keiner will dem anderen das Spiel verderben.

Es gibt aber einen noch besseren Grund, warum ich weiterspiele, obwohl es nicht mehr "in" ist. Ich spiele Pokémon Go, weil es mir Spaß macht. Wenn ich das aber jemandem sage, bekomme ich mitleidsvolle Blicke, als wüchse mir ein Geschwür im Gesicht. Ich gucke dann genauso mitleidsvoll zurück. Was muss man für ein kleiner Geist sein, um anderen Leuten zu verübeln, dass diesen etwas Freude bereitet, woran man selbst den Spaß verloren hat.

Ich muss jetzt schließen: Vor dem Verlag sitzt ein Pikachu mit Weihnachtsmütze, das nicht mehr lange wartet. (ghi)