Kommentar: Zuckt sie noch? Vom nahen Ende der Vorratsdatenspeicherung

Seite 2: Bundesregierung klammert sich fest

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Irritierend ist allein, wie sich die Bundesregierung noch an ihr gescheitertes Gesetz klammert: Anstatt die toten VDS-Normen im TKG stehen zu lassen, wäre es eine Frage des politischen Anstands gewesen, als Antrag der Fraktionen der Großen Koalition sofort ein TKG-Bereinigungsgesetz vorzulegen, das die VDS-Paragraphen auch formell aufhebt. Das würde der Rechtsklarheit dienen und es den Providern ersparen, ihrerseits Eilanträge an das Verwaltungsgericht Köln zu stellen: Nur so lässt sich letzte Rechtssicherheit erlangen, auch wenn derzeit von der BNetzA kein Ungemach droht – und wohl auch nicht mehr drohen wird

Apropos Provider: Aufgrund der europarechtlichen Unanwendbarkeit der VDS-Normen dürfen sie keine Vorratsdaten mehr speichern. Einige haben dies auch schon angekündigt. Die Gesellschaft für Freiheitsrechte widerum will Provider vor Gericht bringen, die die VDS illegal fortsetzen wollen, und sucht derzeit Freiwillige für mögliche Klagen.

Was bedeuten die jüngsten Entwicklungen nun für die Verfassungsbeschwerden, die dem Bundesverfassungsgericht vorliegen? Sie sind letztlich von der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs überholt worden: Sollte das BVerfG entscheiden, dass die VDS 2.0 (auch) gegen das Grundgesetz verstößt, so würde das Gericht letztlich nur auf der Grundlage nationalen Rechts wiederholen, was seit der Entscheidung des EuGH vom Dezember 2016 feststeht: Dass nämlich eine VDS, die unterschiedslos alle Menschen erfasst, schlechthin unvereinbar mit dem Recht auf Privatsphäre ist.

Karlsruhe steht damit ziemlich blamiert da: Die Entscheidung von 2010, bei der die VDS 1.0 nur wegen der mangelhaften Datensicherheit gekippt wurde, eine anlasslose Massenspeicherung auf Vorrat im Grundsatz aber akzeptiert wurde, erscheint im Vergleich zur Rechtsprechung des EuGH nun geradezu hasenfüßig. Allzu leichtfertig haben die Karlsruher Richterinnen und Richter die empirisch europaweit unbelegten Behauptungen der VDS-Lobby übernommen, dass eine solche Maßnahme verhältnismäßig, insbesondere auch wirksam sei. Der EuGH hingegen schaut genauer hin, erkennt die fatalen Folgen einer generellen VDS und weist der Privatsphäre ein höheres Gewicht zu als letztlich leeren Behauptungen. Damit macht der EuGH dem BVerfG, das immerhin Ende 1983 mit seiner bahnbrechenden „Volkszählungs“-Entscheidung das Datenschutz-Grundrecht informationelle Selbstbestimmung erfunden hat, die Rolle des führenden Gerichts für Grundrechtsschutz in Europa streitig.

Das BVerfG scheint bei der VDS die Zeichen der Zeit leider noch nicht erkannt zu haben. Alle Eilanträge blieben bisher ohne Erfolg – obwohl Karlsruhe spätestens nach der Entscheidung des EuGH vom Dezember 2016 zu derselben Einschätzung wie jetzt das OVG Münster hätte kommen können und müssen: Wegen der europarechtlichen Unanwendbarkeit der VDS-Normen gebieten es informationelle Selbstbestimmung und Telekommunikationsgeheimnis, die VDS auf Eis zu legen. Das BVerfG lässt sich hier beim Schutz der Privatsphäre ohne Not die Butter vom Brot nehmen. Im Interesse der Rechtsklarheit, aber auch des bisher exzellenten Rufs des BVerfG als Hüter der Grundrechte wäre zu hoffen, dass das Gericht hier zu seiner früheren Entschlussfreude zurückfindet: Immerhin wurde die erste VDS 2008 per Eilentscheidung wesentlich entschärft.

Die Entwicklungen der letzten Tage zeigen schließlich, dass Gerichtsverfahren zum Schutz von Freiheitsrechten ein rechtlich sehr komplexes Thema sind. Zum effektiven Schutz der Grund- und Menschenrechte braucht es mehr als nur Verfassungsbeschwerden, auch wenn diese natürlich ein wesentlicher Baustein jeder Litigation-Strategie bleiben. Deswegen setzen neue spezialisierte zivilgesellschaftliche Akteure wie die GFF nicht allein auf Karlsruhe, sondern auf einen bunten Strauß rechtlicher Schritte – vom Amtsgericht bis zum EuGH. (axk)