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Was war. Was wird.

Es gibt Musik gegen das Vergessen, die das Vergessen tatsächlich unmöglich macht. Bei aller Ernsthaftigkeit: Auf Vergesslichkeit scheinen aber auch die großkoalitionären Verhandlungsführer zu setzen, kalauert Hal Faber.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Gegen das Vergessen ist mehr als nur in alten Kalenderblättern nachzulesen, was alles zum deutschen 9. November gehört. Von der Erschießung Robert Blums 1848 über die Proklamation der Republik 1918, über den Hitlerputsch 1923, die Reichskristallnacht 1938 und schließlich die Öffnung der Berliner Mauer reicht die Kette historischer Daten, derer an diesem Wochenende viel gedacht und noch mehr geschrieben und erinnert wird. Gegen das Vergessen hat John Zorn die passende und unvergessliche Musik geschrieben.

*** Der 8. November 1965 gehört nicht dazu. Es ist der Tag, an dem der deutsche Whistleblower Werner Pätsch wegen "vorsätzlicher Veletzung der Amtsverschwiegenheit" verurteilt wurde. Er bekam vier Monate Haft auf Bewährung mit einem Urteil, dass nach den Worten des großen Spiegel-Reporters Gerhard Mauz den Mohren reinigte, in dem es die Nacht zum Tag erklärte.. Werner Pätsch hatte die illegalen Abhör- und Kopierpraktiken des Bundesamtes für Verfassungsschutz an die Öffentlichkeit gebracht in einem Fall, der in vielen Punkten an die Entdeckungen von Edward Snowden erinnert.

*** Pätsch war "Fallführer" beim Verfassungsschutz und stieß bei seiner Arbeit auf streng geheime Vordrucke, mit denen der Verfassungsschutz Kopier- und Abhöraktionen gegen Bundesbürger bei den allierten Geheimdiensten der Briten und US-Amerikaner "in Auftrag" gab. Die guten Kollegen vom CIA erledigten umstandslos das, was den deutschen Staatsschützern verboten war. Pätsch machte die Skandalpraxis der reibungslosen Zusammenarbeit der Schnüffeldienste öffentlich. Spiegel und Stern berichteten, ein Panorama-Interview mit ihm wurde gedreht – und verschwand prompt in der Giftkammer. Das Spielchen anno 1965 war nicht anderes als heute: Politiker gaben sich ahnungslos und hatten von nichts gewusst. Berühmt wurde die Antwort des damaligen Innenministers Hermann Höcherl (CSU), der auf die Frage, ob die Beamten des Verfassungsschutzes nicht gegen die Verfassung verstießen, erklärte: "Die Beamten können nicht den ganzen Tag mit dem Grundgesetz unter dem Arm herumlaufen." Diese Antwort könnte auch von seinem Nachfolger Hans-Peter Friedrich stammen, dem Verfechter eines handlichen, sehr portablen Supergrundrechtes auf Sicherheit. So zeigt sich die besondere deutsche Kontinuität auch in den alten Akten zum Fall Pätsch, die aufgrund einer Weisung des Verfassungsschutzgerichtes bis heute nicht eingesehen werden dürfen, "da aus dem Akteninhalt auf konkrete, noch heute relevante Arbeitsweisen und Organisationseinheiten des Bundesamtes für Verfassungsschuzt geschlossen werden kann." Um es mit William Faulkner zu sagen: "Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen."

*** Was bisher alles los war in Sachen NSA, kann jetzt über eine hübsche Timeline eingesehen werden, ganz im Gegensatz zu den Dokumenten, die der BND über die Reise von Ströbele nach Moskau anfertigen musste. Die Expertise deutscher Geheimdienste lässt nicht zu wünschen übrig und suggeriert einen vom FSB gelenkten Ströbele, genauso unzurechnungsfähig wie ein bekannter Bild-Kolumnist. So erstaunt es weiter nicht, dass Deutschland seiner angenommenen Schutzmacht USA folgt und Edward Snowden erneut kein Asyl anbietet. Zwischen Moskau und Washington liegt Ströbeles Kreuzberg, was jetzt die größte Bevölkerungsdichte an Whistleblower-Betreuern hat: Nach Jacob Appelbaum und Laura Poitras ist nun auch die Wikileaks-Mitarbeiterin Sarah Harrison hier gelandet. Sie hatte Edward Snowden in Hongkong aufgesucht und mit jenen ungültigen Papieren aus der ecuadorianischen Botschaft versorgt, die weder von Russland noch von Ecuador anerkannt wurden. Ein pathetisches Statement von Wikileaks über die Exilanten durfte da nicht fehlen. Das alle drei rund um die Uhr beschattet werden, dürfte niemand auf die Funk-Palme bringen.

*** Diesem Anfang wohnt ein großer Zauber inne: Kaum hatte Innen-Peter Friedrichs formuliert, die Mautdaten bei schwersten Straftaten nutzen zu wollen, da wurde abrakadabra das Thema bei den Koalitionsverhandlungen weggezaubert. Echte Zauberei ist auch bei der von den Großkoalitionären angepeilten Energiewende im Spiel, bei der bis 2020 der Anteil des Ökostroms 40 Prozent statt bisher 35 Prozent betragen soll. Gleichzeitig wurden abrakadabra die Leistungen der Offshore-Windparks von 10.000 auf 6.500 Megawatt gedrosselt, um Überförderungen zu vermeiden. Auch bei der vom Verteidigungsminister geforderten Anschaffung von waffenfähigen Drohnen tut sich Wunderliches mit der Neu-Definition einer "Einsatzschwelle", natürlich im magischen Jahr 2020. Bis dahin soll ein europäisches System durch die Luft fliegen und geschickt den doofen, von Menschen gesteuerten Fliegern ausweichen. Wird in diesem Stil weiter gezaubert und umdefiniert, dann wird aus dem Entschluss, Zwangsrouter zu verbieten, unter der tätigen Mithilfe der Bundesnetzagentur noch abrakadabra das Verbot, freie Router einzusetzen. Welchselbiges dann von einem Internet-Ministerium überwacht wird. In diesen unseren NSA-überwachten Zeiten ist es schon seltsam, wie der Protest von 19 Endgeräterherstellern abgebügelt wird, unter ihnen Firmen, die wirklich noch "deutsche" Router auf deutschem Boden zusammenschrauben lassen – auch wenn die Baugruppen aus China kommen.

Was wird.

Ja, ja, die zauberhafte Zukunft ist auch nicht mehr das, was sie früher einmal war. Bekanntlich schlidderte der Vorhersagespezialist Intrade in den Konkurs, weil er nicht vohersah, dass der Firmenchef am Mount Everest starb. Mit Ausblicken in die Zukunft heißt es also vorsichtig zu sein angesichts all der Zaubereien und Überwachungstricks. Nur ganz kurzfristige Ausblicke haben da eine Chance, etwa den einen auf die bereits letzte Woche erwähnte Herbsttagung des BKA, nunmehr ohne Innenzauberer Hans-Peter Friedrich, aber schwer aktuell mit dem Thema des digitalen Nacheilens. Erwähnenswert ist auch, dass das erste deutsche Buch zur NSA-Affäre in den Handel kommt, wenngleich nicht auf toten Bäumen.

Doch schon bei den etwas weiter in der Zukunft liegenden Themen kommt Schwindel auf. Ja, ACTA wurde von einer breiten Protestkampagne nicht allein derer verhindert, die jetzt gerade als digitale Jammerlappen abgekanzelt werden. Mit TAFTA taucht die neue, analoge wie digitale große Unterwerfung auf als nächster klammheimlicher Versuch, die Demokratie zu untergraben. Und niemand sagt was, erst recht nicht der zaubernde Superminister Siggy Pop.

"Es hat mich immer genervt, dass Engel so reden, als wären sie die einzigen weisen Wesen, und dies mit einer so selbstverständlichen Unverfrorenheit, als bedürfe es keiner systematischen Begründung", schrieb der Engländer William Blake in der Hochzeit von "Himmel und Hölle". Er gehörte zu jenen romantischen Hackern, an denen der CCC im letzten Jahr seine Freude hatte. Während die Hackerwelt auf den Start des Vorverkaufs zum 30C3 wartet, sei an Blakes Swedenborg-Diskussion erinnert, wie man männliche und weibliche Engel unterscheiden könnte. Basierend auf diesen Überlegungen hatte die französische Firma Quividi Software entwickelt, die männliche und weibliche Betrachter einer Werbung unterscheiden kann und entsprechend unterschiedliche Werbung einspielt. Nun soll die Quividi-Software mitsamt dem Kamerasystem von Optimeyes an allen Tankstellen des britischen Tesco-Konzerns eingesetzt werden. Ein entsprechender Bericht in der tageszeitung hat viele antisemitische Kommentare produziert. Wir schreiben den 10. November 2013. (jk)