Interview: Der Wahnsinn einer Megacity

Seite 3: Alkoholismus, Drogen, Teen-Schwangerschaften

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Was ja bisweilen helfen soll! Aus Ihren Fotos wird deutlich, dass Armut nicht das einzige Problem der Favelas ist. Es geht auch um Alkoholismus, Drogen, Teen-Schwangerschaften und anderes...

Cazalis: Ich erzähle Ihnen die Geschichte von Don Izete: Er ist der Sohn einer Frau, die mit fünf Kindern aus dem bitterarmen Nordosten Brasiliens kam, auf der Flucht vor ihrem gewalttätigen Ehemann. Ihr Sohn Izete wurde Alkoholiker und sie brachte ihn in einer Hütte neben ihrem Haus unter, da ist gerade mal Platz für sein Bett. Manchmal füttert sie ihn durch ein Fenster, weil er gewalttätig wird, wenn er betrunken ist. Auf einem meiner Fotos sieht man, wie er seinen toten Hund trägt. Jemand hat ihn vergiftet und er hat ihn einfach auf einem Müllhaufen vor dem Haus eines Nachbarn abgelegt. Die Mutter musste dann seine Brüder schicken, damit die den Hund wieder abholen – sie haben ihn ins Flussbett geworfen. Manchmal wissen die Leute da wirklich nicht, was sie machen. Wenn er nüchtern war, saß Don Izete einfach stumm in einer Ecke. Die Familie wusste auch nicht, was sie mit ihm machen sollte. Mit der Hilfe einer evangelikalen Kirche – die sind in den Favelas sehr aktiv – haben sie ihn immer wieder in eine Suchtklinik geschickt. Aber er ist jedesmal ausgebüxt.

Würden Sie sagen, dass die evangelikalen Kirchen gut für die Favelas sind?

Cazalis: Die Evangelikalen nutzen die Leute auch für ihren wirtschaftlichen und ideologischen Ziele aus. Aber sie besetzen ein Vakuum, das Aufgabe des Staates wäre. Eines der Bilder in "Occupy Sao Paulo" zeigt, wie sich ein Geschwisterpaar in den Armen liegt – das ist eine evangelikale Zeremonie, in der die junge Frau ihrer kriminellen Vergangenheit abschwört. Sie war Teil einer Gang und war in eine Schießerei mit der Polizei geraten, in der einer ihrer Kameraden starb. Sie konnte entwischen – und hat danach entschieden, ihr Leben in Ordnung zu bringen. Die Evangelikalen haben ihr dabei geholfen.

Sie haben viele dieser intimen, hochemotionalen Situationen fotografiert. Haben die Leute Ihre Kamera einfach vergessen?

Cazalis: Ich glaube, sie haben sich mir geöffnet, weil ich einfach immer da war, ich war Teil ihres Alltag. Irgendwann haben sie mich auch gefragt: Warum mietest du hier nicht ein Haus?

Sie scheinen beim Fotografieren ohne viel Equipment auszukommen – vielleicht hilft das ja auch.

Cazalis: Ja, ich mag es, den Leute nahe zu kommen, sodass sie vergessen können, dass eine Kamera dabei ist. Deshalb schleppe ich nicht viel mit mir herum und wechsele auch nicht ständig das Objektiv. Ungefähr 90 Prozent des Buches habe ich mit einem 35-Millimeter-Objektiv fotografiert – damit hat man einen Weitwinkelaspekt und kann trotzdem noch intime Bilder machen.