Interview: Der Wahnsinn einer Megacity

Seite 4: Prestes Maia, eine verlassene Textilmanufaktur

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Sie haben auch in einem der vielen besetzten Häuser im Zentrum von São Paulo fotografiert...

Cazalis: Das war im Prestes Maia, eine verlassene Textilmanufaktur, die 2005 von der Obdachlosenbewegung Movimento Sem Teito do Centro besetzt wurde. Die Bewegung kommt aus den Favelas. Viele der Besetzer arbeiten als Straßenverkäufer. Sie sagen: Wenn wir in den Favelas der Periferie wohnen, brauchen wir drei Stunden, um ins Zentrum zu kommen. Als sie das Gebäude besetzten, standen über 40.000 Gebäude in der Innenstadt leer.

Sie haben 2008 den World Press Award in der Kategorie "Contemporary Issue Stories" gewonnen für eine Bilderserie mit Menschen, die auf der Straße schlafen. In Ihrem Buch über São Paulo finden wir die Obdachlosen auch. Was interessiert Sie an dem Motiv?

Cazalis: Der obdachlose Schläfer ist in gewisser Weise der originäre Stadtbewohner – er wohnt nicht in einem Gebäude, er wohnt auf dem nackten Boden. Ich fotografiere diese Schläfer auch, um zu zeigen, wie alltäglich sie für uns geworden sind – sie sind für uns wie eine Möblierung der Stadt. Ich habe festgestellt, dass es sie oft sehr glücklich macht, wenn man einfach mal "Guten Morgen" sagt und fragt, ob sie was brauchen.

Drei Jahre lang Obdachlose, Favelabewohner und abgeschottete Gated communities zu fotografieren - das muss doch an die emotionale Substanz gehen...

Cazalis: Das Buch ist voller Geschichten von Leuten, die darum kämpfen, ein Zuhause haben zu können - das ist auch ein Teil von mir. Meine Familie ist immer unterwegs gewesen, seit ich vier Jahre alt bin, wegen der Arbeit meines Vaters - und auch als Erwachsener war ich immer sehr rastlos. Als stabile Persönlichkeit gilt nur jemand, der ein Zuhause mit Dach und vier Wänden hat, verheiratet ist, Kinder hat und einen Job. Ich will das in Frage stellen. Nur wenn du glaubst, dass es im Leben darum geht, bist du unglücklich, wenn du nichts davon hast. Manche von den Obdachlosen schienen mir durchaus glücklich zu sein – und ich habe andererseits viele Superreiche erlebt, die keine Freude an ihrem Luxus hatten – weil der Vater täglich mehrere Stunden im Stau steckt und die Frau allein in einem riesigen Haus sitzt. Wozu ist so ein Zuhause gut? (keh)