Die Physik des Stillstands
Dank aufwendiger Simulationsmodelle werden Staus berechenbarer – wenn nur der Mensch nicht wäre.
- Tim Rittmeier
Ein Stau ist nicht einfach ein Stau – Verkehrsforscher kennen die verschiedensten Typen und Phasen. Aus wissenschaftlicher Sicht am spannendsten ist dabei der berüchtigte Stau aus dem Nichts: Man weiß, dass bei einer entsprechenden Verkehrsdichte schon ein unbedachtes Bremsmanöver als Ursache ausreicht. Man weiß, dass sich der Stau wie eine Welle mit einer Geschwindigkeit von rund 15 km/h nach hinten ausbreitet. Man kennt die maximal möglichen Durchflüsse, rund 2500 Fahrzeuge pro Stunde und Fahrbahn.
Geschwindigkeitsunterschiede reduzieren
Die Physik des Stillstands (4 Bilder)
Wie wir alle das hassen: Hier hats gekracht, und solche Staus dauern. Aber auch die "Staus aus dem Nichts" nerven. (Bild: ADAC)
Etwas schwieriger sind Angaben über mögliche Idealgeschwindigkeiten. Rein theoretisch wäre es naturgemäß die Höchstgeschwindigkeit. Für die Praxis werden aber oft 85 km/h als das Tempo genannt, bei dem die meisten Autos durchgeschleust werden können. Andreas Schadschneider, Verkehrsforscher am Institut für Theoretische Physik in Köln, geht sogar von 120 bis 130 km/h aus. Allerdings, so sagt er, "segelt man dann sehr knapp am Rande des Kollapses". Sicher sei jedenfalls, dass man große Geschwindigkeitsdifferenzen vermeiden sollte. Insofern sind Deutschlands Autobahnen mangels Tempolimit geradezu prädestiniert für Staus.
La Ola auf der StraĂźe
Auch andere Fragen sind noch offen. "Wir wissen zu wenig über die innere Dynamik eines Staus", sagt Michael Schreckenberg, Professor für Verkehrsphysik an der Uni Duisburg-Essen. Deshalb interessiert er sich vor allem für die Freiräume zwischen den einzelnen Stauabschnitten, die den Pulsschlag eines Staus kennzeichnen und seine typischen Stop-and-go-Wellen verursachen.
Nicht Staus, sondern Reisezeiten prognostizieren
Dieses Innenleben des Staus ist wichtiger als die Länge, die in keinem direkten Verhältnis zur Durchlaufzeit steht. Darauf kommt es aber in der Praxis an. Die Herausforderung für Stauforscher wie Schreckenberg ist also längst nicht mehr, Staus vorherzusagen, sondern Reisezeiten zu prognostizieren. Auch das funktioniert schon heute, wie das von Schreckenberg mitentwickelte Projekt "autobahn.nrw.de" demonstriert: Für 2250 Autobahnkilometer in Nordrhein-Westfalen können hier nicht nur Stauvorschauen für die nächsten 30 und 60 Minuten abgerufen werden, sondern auch Reisezeitprognosen. Allerdings mit Einschränkungen, da die Berechnungen auf dem jeweils aktuellen Verkehrszustand beruhen. Im nächsten Schritt soll auch die erwartete Veränderung des Verkehrszustands berücksichtigt werden.
Selbst-nichterfĂĽllende Prophezeiung
Die wichtigste Aufgabe der Stauforschung ist für Schreckenberg aber, "die Psyche der Autofahrer besser kennen zu lernen und einzubeziehen. Wir müssen wissen, wie sie unsere Informationen nutzen." Denn ein grundsätzliches Problem jeder Verkehrsprognose ist: Je besser sie ist, desto weniger trifft sie ein. Darin unterscheidet sich der Verkehr vom Wetter. "Wenn wir zwei verschiedene Reisezeiten für verschiedene Routen angeben, müssen wir annehmen, dass alle die schnellste Strecke nehmen. In diesem Moment stimmt aber die Prognose nicht mehr", sagt Schreckenberg. Verhindern lasse sich das nur mit "gezielter Desinformation".
Ab durch den Stau
Ein Versuch mit Studenten ergab vier verschiedene Typen von Autofahrern. Die Sensiblen (44 Prozent) reagieren wie ein Navigationssystem: Sobald eine Störung auftritt, ändern sie ihre ursprünglich gewählte Route. Anders die Taktiker (14 Prozent): Sie spekulieren auf das Verschwinden der Sensiblen und tun das Gegenteil von dem, was der Verkehrsfunk empfiehlt. Die Konservativen (42 Prozent) fahren wie geplant und unabhängig davon, welche Meldungen im Radio laufen. Die Untergruppe der stoisch Konservativen (1,5 Prozent) fahren täglich die exakt gleiche Strecke, unbeeindruckt von allen Staumeldungen – und waren in diesem Versuch die Schnellsten. Schreckenbergs Empfehlung: "Bei Zeitdruck ist es immer besser, in den Stau hineinzufahren." Allerdings gilt das nur, so lange dieser Ratschlag nicht in der "Bild"-Zeitung steht.