"Missing Link": Manipulation, Meinungsfreiheit und Propaganda bei Facebook & Co.

Seite 3: Mit kontroversen Themen Unruhe stiften

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Aus "offiziellen Kreisen" Facebooks will die Zeitung Anfang Oktober erfahren haben, dass das soziale Netzwerk mittlerweile von einer "stark koordinierten Desinformationskampagne" auf einigen Gruppen und Seiten ausgehe, die auf die Internet Research Agency zurückgeführt werde. "Die Anzeigen und Konten, die wir gefunden haben, scheinen umstrittene politische Themen rund um das politische Spektrum verbreitert zu haben", erklärte Joel Kaplan, der bei Facebook für die Beziehungen zur Politik zuständig ist, dem Blatt.

Die ungewöhnlichen Stimmen im Wahlkampf hätten sich als US-amerikanische ausgegeben und so getan, als sprächen sie für ähnlich denkende Bürger wie Gegner von Einwanderern, Befürworter von Waffenrechten, Unterstützer für Rechte Homosexueller, schwarze Aktivisten oder sogar Hundeliebhaber, meldet die Times. Solche Gruppen hätten auf Namen gehört wie "Defend the 2nd", "Secured Borders", "LGBT United" oder "Being Patriotic". Teils sei es zunächst wohl darum gegangen, möglichst viele Gleichgesinnte anzuziehen. Laut nicht näher genannten "Russlandexperten" habe Putin aber offenbar darauf gehofft, "das Bild der amerikanischen Demokratie zu schädigen und den internationalen Einfluss der USA zu schmälern".

Eine Woche später legt das Blatt noch einmal nach und wirft einen tieferen Blick auf Hunderte von Facebook-Beiträgen, die der "russischen Penetration" des sozialen Netzwerks erwachsen seien. Vielfach hätten sich die Verfasser dabei "Ideen und Argumente von Amerikanern ausgeliehen, die bereits einen gewissen Widerhall bei Konservativen und Liberalen fanden". Dabei hätten sie – trotz einiger gestelzter, im Umgangsenglisch kaum benutzter Phrasen – ein gewieftes Verständnis der politischen Landschaft in den USA bewiesen.

Es habe sich dabei um "kulturelles Hacking" gehandelt, zitiert die Times den Forschungsleiter für digitalen Journalismus an der Columbia-Universität, Jonathan Albright. "Sie nutzen Systeme, die bereits auf diesen Plattformen aufgesetzt waren, um das Engagement zu erhöhen. Sie füttern Empörung an, was einfach ist, da die Leute Sachen aufgrund von Ärger und Emotion mit anderen teilen." Facebook habe die fraglichen Seiten und Profile in den vergangenen Wochen alle gelöscht. Viele ihrer Inhalte seien aber mit dem Analyseprogramm CrowdTangle zuvor eingefangen worden, eine Sammlung habe Albright zugänglich gemacht.

Wenn etwa über die Gruppe "Being Patriotic" Hetze gegen Flüchtlinge von mehreren Hunderttausend Nutzern mit Likes, Kommentaren oder Weiterleitungen bedacht worden sei, hat dies laut dem Bericht auch US-Amerikaner wie den republikanischen Aktivisten und Trump-Fan Len Swanson motiviert, diese Äußerungen aufzugreifen und in Kommentaren ebenfalls auf Facebook oder auf LinkedIn weiter zu tragen. Dass er dabei wohl ein "Rad in der russischen Propagandamaschine geworden sei", störe ihn nicht. Der 64-Jährige verwies vielmehr darauf, dass "wir das verdammte Zeug genauso dort drüben machen". Heilige gebe es keine.

Mit dem Hinweis auf den gegenseitigen Informationskrieg wollte es die Zeitung nicht bewenden lassen. Die russische Kampagne sei genau auf die Regeln von Facebook und Co. zugeschnitten gewesen, schreibt sie. Die geteilten Inhalte und Kommentare hätten zwar nicht ausdrücklich zu Gewalt aufgerufen und seien auch nicht direkt diskriminierend gewesen. Sie hätten es aber geschafft, die Nutzer ganz im Interesse der Plattformen am Ball zu halten. Die Russen hätten "Samen und Dünger auf die sozialen Medien geworfen", erläuterte John W. Kelly, Gründer der Analysefirma Graphika. Eine solche Saat wollten sie dann aufgehen sehen und "infiltrieren", um sie weiter "ein wenig formen zu können".

Inzwischen soll auch Twitter Hunderte falsche, in Richtung Russland weisende Konten identifiziert haben, obwohl Konzernchef Jack Dorsey wenige Tage zuvor noch das Gegenteil behauptet hatte. Da das soziale Netzwerk weniger Reichweite hat als Facebook, steht es aber nicht im Zentrum der Aufarbeitung. Google gab bekannt, ebenfalls von russischen Auftraggebern finanzierte Werbekampagnen ausfindig gemacht zu haben. Die Inserenten haben laut einem recht vagen Bericht der Washington Post zehntausende US-Dollar für Banner auf der Suchmaschinen sowie YouTube, Gmail und dem Werbenetzwerk DoubleClick ausgegeben. Mit dem überschaubaren Budget sollen gezielt Falschinformationen unter die Nutzer gebracht worden sein, um deren politische Meinung zu beeinflussen.

Microsoft wollte da nicht länger zurückstehen und ließ wenig später durchblicken, Anzeigengeschäfte aus der Wahlkampfzeit 2016 zu überprüfen. Die Redmonder wollen damit herausfinden, ob etwa über ihre Suchmaschine Bing während der heißen Phase Werbung verbreitet wurde, die aus Russland finanziert wurde. Auf solche Auffälligkeiten soll der Konzern hingewiesen worden sein. Details und Quellen? Fehlanzeige.

"Wir brauchen unbedingt eine Untersuchung, was 2016 passierte", betonte der Kolumnist Roger Cohen jüngst bei einem Vortrag über "Weltpolitik, Macht und Meinungsmache in der digitalen Welt" im Telefónica-Basecamp in Berlin. Die sozialen Medien seien heute "überall", während Zeitungsartikel früher deutlich mehr Einfluss gehabt hätten. Heute gebe es in der Presse genauso wie im Privatfernsehen oder im Web nur noch eine "Kakophonie" der Stimmen, echte Debatten seien selten. Die Fragmentierung in den USA werde so immer größer.