"Missing Link": Manipulation, Meinungsfreiheit und Propaganda bei Facebook & Co.

Seite 4: Echte Debatten werden seltener

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Der alte Hase im Nachrichtengeschäft, der vor der New York Times auch bereits für das Wall Street Journal und Reuters tätig war, gab offen zu, dass die sozialen Netzwerke "unser Geschäftsmodell bedrohen". Fast alle Werbegelder gingen zu Google und Facebook, sodass die Times und andere führende US-Medien sich hätten neu erfinden müssen. Die Kernaufgabe dabei bleibe aber die alte: "die Mächtigen zur Rechenschaft zu ziehen" – auch und gerade wegen der Blüte von "Fake News" im Internet. Denn wenn der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge weiter schwinde, gebe es gar keine Basis für rationalen Diskurs mehr: "Ohne Fakten verbreitet sich Desorientierung", worin Trump ein Meister sei, indem er sich als Stimme eines Teils der Bevölkerung ausgebe.

Das Schulterzucken, mit dem die Pressesprecher des US-Präsidenten auf dessen Lügen wie einen angeblichen Glückwunsch vom mexikanischen Kollegen für eine Rede vor Pfadfindern reagierten, ängstigt Cohen nach eigenem Bekunden am meisten. Eine solche Haltung sei typisch für Autokraten und Diktatoren. Dagegen sei es umso wichtiger, wachsam zu bleiben, ein gewisses Anstandsgefühl zu wahren und die Republik aufrecht zu erhalten. Trump habe die USA zwar noch nicht in eine zweite "Weimarer Republik" verwandelt. Er habe es aber akzeptabler gemacht, "rassistisches Gedankengut zu äußern", uns so ein mittelgroßes Erdbeben "in der freien Welt" ausgelöst.

Cohen philosophierte zugleich über das Wesen sozialer Medien, das es nicht sonderlich einfach mache, "den Müll auszusortieren". "Wir führen immer weiter auseinander laufende Leben", meinte der bekennende Transatlantiker. "Da wird es immer schwerer, sich auf etwas zu fokussieren." Facebook schüre Gefühle der eigenen Ungenügsamkeiten, viele Nutzer fragten sich ständig, ob sie dort ausreichend geliked und beachtet würden. Dies sei eine einzige große Ablenkung von viel wesentlicheren Dingen.

"Die Technologie ist eine stark verbindende, aber auch eine trennende Macht", weiß Cohen. Der Langzeiteffekt des Internets und der sozialen Medien sei dabei derzeit noch völlig unklar. Offen zutage trete aber, dass diese die Menschen beeinflussten und zwar etwa "wie wir denken, wählen und lieben". Er finde es daher gut, dass Zuckerberg langsam aufwache und nicht nur mehr Aufmerksamkeit darauf lenke, "was Russland getan hat", sondern generell bereit sei, mehr politische Verantwortung für den Kommunikationsaustausch über Facebook zu übernehmen.

Diese Entwicklung zeichnete Anfang Oktober das zur Times gehörende New York Magazine nach. Der "Präsident-Papst-Vizekönig" des größten sozialen Netzwerks mit seinen rund zwei Milliarden Mitgliedern und einem Marktwert von über 500 Milliarden US-Dollar war demnach selbst nicht angemessen auf die Rolle vorbereitet, "die Facebook vergangenes Jahr in der globalen Politik gespielt hat". Zu groß sei der Glaube Zuckerbergs an die eigene Vorstellung gewesen, dass es sich bei dem gigantischen Online-Forum um eine "liberale Institution" im klassischen Sinne handle, auf der jeder frei mitreden können, "solange er kein Foto mit einem Nippel postet".

Mittlerweile habe sich herausgestellt, dass auch im demokratischen Netz "extreme Akteure die Parameter der politischen Konversation bestimmen" könnten. Facebook habe daher eine "geheime Arbeitsgruppe" eingesetzt, um das Problem der Desinformation anzugehen. Zuckerberg selbst habe eingestanden, dass Technologie und Globalisierung nicht nur jahrzehntelang die Menschheit enger verknüpft und produktiver gemacht, sondern auch zu einem großen "Gefühl der Spaltung" beigetragen habe. In einer Art Manifest habe er im Februar dargelegt, dass es der "Fortschritt" von der Menschheit verlange, eine "globale Gemeinschaft" mit "kollektiven Werten" zu bilden, "was erlaubt und verboten sein sollte".

Das hört sich wie eine Predigt an und tatsächlich gehören Kirchengemeinden mit zu den bekanntesten Gemeinschaften. Die Werte, auf die Zuckerberg anspielt, bleiben aber verschleiert und letztlich selbstreferenziell, arbeitet der Magazinautor heraus. Der Community-Gründer schreibe als Leitprinzip nur fest, dass "jede Person so wenig wie möglich anstößige Inhalte sehen" und möglichst viel teilen können sollte. Im Kern gehe es also darum, dass die Leute möglichst viel posten sollten. Das propagierte "Wertesystem" ende so in einem Zirkelschluss: "Facebook ist gut, weil es Gemeinschaft schafft; Gemeinschaft ist gut, weil sie Facebook ermöglicht. Die Werte von Facebook sind Facebook."

Das soziale Netzwerk sei viel zu lange damit durchgekommen, "sich in jeder Ecke unserer Leben breitzumachen", ohne dass die Regierung dazwischengetreten wäre, lautet der Tenor des Beitrags. Geschafft habe es dies mit der alten Leier, nur eine "Vermittlungsinstanz" zu sein, über die Informationen von einem zum anderen fließen. Längst habe Facebook aber mindestens eine so große "Aufmerksamkeitsmacht", wie sie die einschaltstarken, aber viel umfangreicher regulierten TV-Sendernetzwerke hätten.

Meinungsbildungsprozesse seien "ohne Intermediäre nicht mehr denkbar", schreiben Konrad Lischka und Christian Stöcker in einer Studie zur "digitalen Öffentlichkeit" für die Bertelsmann-Stiftung. Vor allem algorithmische Prozesse von sozialen Netzwerken und Suchmaschinen beeinflussten bereits für mehr als die Hälfte aller Onliner hierzulande, "wie und welche Angebote redaktioneller Medien sie in der digitalen Sphäre wahrnehmen". Sie beeinflussten den gesellschaftlichen Diskurs, indem sie "Mitteilungen priorisieren und so die Öffentlichkeit strukturieren".

Ein Risiko dabei sei, "dass fälschlicherweise Repräsentativität angenommen oder Popularität unhinterfragt mit Relevanz gleichgesetzt wird". Algorithmen können zudem schon durch Fehler bei der Gestaltung "Relevanz systematisch verzerrt einschätzen". Dazu kämen weitere Faktoren, die möglicherweise Polarisierung beförderten. Dazu gehöre die Tendenz Artikel ungelesen weiterzureichen. Die Plattformen selbst seien darauf ausgerichtet, "schnelles aber unreflektiertes Verhalten" zu fördern; Newsfeeds stellten auf das "möglicherweise Interessante" ab, was sie "mit gewissen Boulevardmedien" gemeinsam hätten. Potenzielle Folgen seien ein "Wahrheitsrelativismus", ein verengtes mediales Weltbild und eine größere Anfälligkeit für Desinformationskampagnen.

Nichts Genaues wissen die Forscher aber auch noch nicht, belassen viele Aussagen im Konjunktiv und stochern bei der Wirkungsforschung rund um die neuen Medien oft im Nebel. Fest steht dagegen laut der aktuellen "Mediengewichtungsstudie" der Landesmedienanstalten, dass das Internet weiter an Bedeutung gewinnt für die Meinungsbildung. In der Altersgruppe der 14- bis 29-Jährigen hat das Netz demnach mit 51,9 Prozent bereits in diesem Bereich mehr Einfluss als das Fernsehen mit 19,2 Prozent.

38,8 Prozent der Bevölkerung informieren sich täglich im Internet über das Zeitgeschehen, geht aus der Untersuchung hervor. Die meisten von ihnen – 21,7 Prozent der Bevölkerung oder 15,1 Millionen Personen über 14 Jahre – holten sich ihr Wissen dabei täglich in den sozialen Medien. 19 Prozent davon vertrauen Informationen auf Facebook & Co. eher als denen in Fernsehen, Radio oder Zeitung. Gleichzeitig geben mit 94 Prozent fast alle Nutzer sozialer Medien an, sich der Gefahr von Fake News bewusst zu sein und darauf zu achten, woher eine Nachricht kommt. Für Siegfried Schneider, den Vorsitzenden der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten ist damit klar: Wenn zwei von fünf Nutzern glaubten, hier auf sozialen Medien einen guten Überblick über die verschiedenen Standpunkte zu bekommen, "dann zeigt das auch die Verantwortung", die deren Betreibern hätten, "diesen Überblick tatsächlich zu bieten".