Missing Link: Vom Tiananmen-Massaker zur Netzzensur und digitalen Massenüberwachung in China

Seite 2: Künstliche Intelligenz ist das Skalpell und der Mensch ist die Machete

Inhaltsverzeichnis

Die Zensur der Tiananmen-Proteste erfolgt im Reich des Drachen generell mittlerweile weitgehend automatisiert mit Text- und Bilderkennungstechniken sowie maschinellem Lernen. Suchen nach "Tiananmen" etwa auf dem chinesischen Twitter-Klon Weibo verweisen so zwar zunächst auf Millionen Beiträge. Klickt man aber darauf, wird "Keine Ergebnisse" oder auch mal das offizielle Logo des 70. Jahrestags der Gründung des kommunistischen Chinas angezeigt. Ähnlich sieht es aus, wenn sich User vor Ort über Tibet oder Taiwan informieren wollen.

Selbst Posts, die nur auf Daten, Bilder oder Namen im Zusammenhang mit den Unruhen vor 30 Jahren hinweisen, werden inzwischen größtenteils erkannt und zurückgewiesen. Das Zusammenspiel zwischen Zensoren aus Fleisch und Blut und der Maschine funktioniert dabei angeblich immer besser. "Wir sagen manchmal, Künstliche Intelligenz ist das Skalpell und der Mensch ist die Machete", zitiert "Reuters" einen lieber anonym bleibenden Mitarbeiter der Pekinger Firma Bytedance, die auf die Kontrolle von Online-Inhalten spezialisiert ist.

Schafft es ein Autor, dem Zensursystem ein Schnippchen zu schlagen und einem dem Regime zu nahe tretenden Beitrag doch zunächst online zu veröffentlichen, kann dies drastische Folgen haben. Vor drei Jahren wanderten vier Männer aus Chengdu drei Jahre lang ohne Gerichtsverhandlung ins Gefängnis, weil sie mit einem Foto von einer Weinflasche mit einer an den "4. Juni 1989" erinnernden Aufschrift posteten. Die Menschenrechtsseite "China Change" berichtete ferner von einem weiteren Unerschrockenen, der mit einer ähnlichen Aufnahme eine Mahnung mit der Ziffernfolge 8964 online stellte und daraufhin um vier Uhr früh Besuch von der Polizei erhielt mit anschließender Hausdurchsuchung und Verhaftung.

Schon 2013 dokumentierte das Forschungsinstitut Citizen Lab der Universität Toronto, dass die schwarze Liste für soziale Medien in China zum 4. Juni sogar Wörter wie "heute" oder "morgen" umfasst. Gelöscht wird vor allem auch alles, was als Aufruf zu öffentlichen Versammlungen verstanden werden könnte. Die Regierung und die KP zensierten das Internet nicht nur, um das Informationsmonopol zu behalten, schreibt der CNN-Korrespondent James Griffiths in seinem neuen Buch über "The Great Firewall of China: How to Build and Control an Alternative Version of the Internet". Vielmehr treibe sie auch die Angst um vor Plattformen mit dem Potenzial, Menschen für gemeinsame Aktionen zusammenzubringen.

Die Herrschenden täten alles dafür, um das Wachstum großer organisierter Netzwerke zu unterbinden, schreibt der Autor. Dies hielten sie für entscheidend, um die soziale Stabilität und die politische Kontrolle zu behalten: "Daher werden selbst Aufrufe für Umzüge manchmal zensiert, mit denen die Regierungslinie unterstützt werden soll." Schmähbeiträge, in denen die Verwaltung wegen schlechter Luftqualität oder Korruption kritisiert wird, blieben dagegen teils länger online.

Um das Ausmaß der Zensur auf Weibo und der in China ebenfalls überaus populären Universal-App WeChat des Tech-Riesen Tencent weitgehend in Echtzeit zu dokumentieren, betreiben Forscher der Universität Honkong die Transparenzprojekte WeiboScope und WechatScope. Vor wenigen Monaten hat der daran beteiligte Wissenschaftler Fu King-wa ein Archiv mit über 1200 auf Weibo zensierten Bildbeiträgen publiziert, die sich auf die Tiananmen-Unruhen beziehen. Net Alert hat eine ähnliche Datenbank zur breiteren Online-Zensurgeschichte im Reich der Mitte zusammengestellt.

Twitter leistete sich derweil im Vorfeld des Jahrestags eine peinliche Panne. Auch wenn das soziale Netzwerk in China selbst im großen nationalen Intranet nicht verfügbar ist, nutzen Dissidenten die Plattform trotzdem, um darauf per VPN oder direkt aus dem Ausland ihrem Unmut über die Regierungspolitik freien Lauf zu lassen. Doch auch hier schlafen die Zensoren nicht. Wer aus China heraus missliebige Inhalte auf Twitter verbreitet, muss damit rechnen, dass die Aufsichtsbehörden vor der Tür stehen und darauf drängen, Tweets zu löschen oder anderen Kontoinhabern nicht mehr zu folgen.

Am vorigen Wochenende war Beobachtern wie der China-Change-Gründerin Yaxue Cao nun aufgefallen, dass Hunderte, vor allem regierungskritische Twitter-Nutzer auch aus den USA oder Deutschland mit vielen Followern gesperrt waren. Griffiths verwies darauf, dass die Konten zwar nicht alle gelöscht, aber zumindest "suspendiert" worden seien. Dies könne darauf hinweisen, dass nicht unbedingt offener Druck aus China hinter der Blockadewelle stecke, sondern eher massenhafte gezielte Beschwerden über die betroffenen Konten.

Twitter selbst sprach von einem Versehen, das nicht auf umfangreiche Meldungen chinesischer Behörden zurückgehe. Der Betreiber will routinemäßig und aus eigenem Antrieb – freilich zur Unzeit – einige Konten außer Betrieb genommen haben, die aufgrund von Spam-Postings, unauthentischem Verhalten und umgangenen Sperren auffällig geworden seien. Leider seien darunter neben Fake Accounts auch Profile namhafter China-Experten gewesen. Die Fehler würden aber aufgearbeitet. Die Journalistin Sasha Gong gehörte zu den Glücklichen, deren Konto der kalifornische Konzern rasch wieder freischaltete. Sie nutzte die Gelegenheit für einen dringlichen Appell: "Wir müssen den Social-Media-Riesen sagen: Wenn ihr in diesem epischen Kampf um die Freiheit nicht für uns seid, dann seid ihr gegen uns."

Auch Apple zog rund um den 4. Juni erneut Kritik auf sich, da sich auf der Musikplattform des US-Unternehmens mehrere Lieder und Alben von Künstlern aus Hongkong nicht mehr auffinden und streamen ließen. Dazu gehörte laut chinesischen Nutzern der Titelsong des Spielfilms "A Chinese Ghost Story II", der auf das Tiananmen-Massaker anspielt. Tencent soll entsprechende Inhalte ebenfalls aus seinem Streaming-Dienst entfernt haben.

Apple hat sich im Interesse seines Milliardenumsatzes vor Ort bereits wiederholt Auflagen der Behörden gebeugt und etwa Hunderte VPN-Apps aus seinem Store verbannt. Zudem verlagerten die Kalifornier iCloud-Inhalte chinesischer Nutzer aus den USA auf Server chinesischer Firmen. Dies räume örtlichen Beamten uneingeschränkten Zugriff auf die sensiblen Daten ein, beklagte Amnesty International diesen Schritt und schalt das so sehr auf Privatsphäre als Verkaufsargument setzende Unternehmen als "Datenschutzverräter".

Google liefert sich mit Dragonfly ("Libelle") einen ähnlich heiklen Tanz mit dem Drachen. Ende 2018 hieß es, dass der Internetkonzern seine viel kritisierten Arbeiten für eine Rückkehr auf den chinesischen Markt mit einer zensierten Suchmaschine weitgehend ausgesetzt habe. Bei den Vorbereitungen seien interne Datenschutzprüfer nicht hinreichend eingebunden gewesen, die nun einen integralen Bestandteil eingestampft hätten.

Im März legte das Online-Magazin "The Intercept" aber nach, mit einem Verweis auf Beobachtungen von mehreren anonymen Mitarbeitern des Suchmaschinenbetreibers. Diese wollen demnach in internen Werkzeugen nachverfolgt haben, dass an dem Code für das Projekt weiterhin Änderungen vorgenommen würden und dieses somit nach wie vor aktiv sei. Google entwickele nun auf dieser Basis zwei Such-Apps für Android und iOS mit den Namen Maotai und Longfei. Offiziell gibt es dafür bislang keine Bestätigung.